Die Tragödien sind real

Zweifel am großen Design der Welt: Susan Neiman denkt über das Böse nach und will eine andere Geschichte der Philosophie schreiben – vom Erdbeben in Lissabon über Auschwitz bis zu Al-Qaida

VON JAN SÜSELBECK

Ist die Welt gut? Susan Neimans philosophische Untersuchung „Das Böse denken“ beginnt die Beantwortung dieser Frage mit einer ersten kritischen Bemerkung Alfons X., der 1252 zum König von Kastilien gekrönt wurde. „Hätte ich bei der Schöpfung in Gottes Rat gesessen, würde vieles besser geordnet sein“, bemerkte der astronomisch interessierte Herrscher, dem beim wiederholten Blick in das Himmelszelt aufgefallen war, dass es da oben doch ziemlich durcheinander aussah.

Der Topos der Anklage des „Großen Designers“ (Arno Schmidt) ist wohl so alt wie die Menschheit. Seit frühen Schriftzeugnissen wie dem biblischen Buch Hiob bricht das philosophische Staunen über den Einfallsreichtum des „Bösen“ in der Welt nicht ab. Ist die Natur gerecht? Kann ein Erdbeben überhaupt böse sein? Oder sind es nur die Menschen? Derartige Dispute änderten ihre Stoßrichtung auf dem Weg in die Moderne immer wieder extrem. Doch im 20. Jahrhundert geschah schließlich ein Verbrechen, das der Philosophie endgültig die Sprache verschlug: Auschwitz. „Auschwitz steht […] für alles, was wir meinen, wenn wir heute das Wort böse verwenden: Eine schrankenlose Untat, die keinen Raum für Rechenschaft oder Erklärung lässt“, schreibt Neiman in ihrer Einleitung.

Die Geistesgeschichte der Idee des Bösen in einem Buch zusammenzufassen, das obendrein ausdrücklich den Anspruch erhebt, allgemein verständlich geschrieben zu sein, ist ein ehrgeiziges Vorhaben. Schon die deutsche Titelwahl unterstreicht das selbstbewusst. Stellt sich die Autorin hier doch als souveräne Wissenschaftlerin vor, die sowohl das „Böse“ selbst zu „denken“ als auch die gesamte Philosophiegeschichte einmal ganz „anders“ zu erzählen wisse. „Das Böse? Ist das nicht ein Thema für Theologen oder allenfalls Amerikaner?“, gibt Neiman eingangs ironisch einen Einwand wieder, den sie angeblich öfters höre. Doch tatsächlich ist das „Böse“ derzeit ein massenkompatibles Modethema der Philosophie und ganz und gar nicht so originell, wie uns die Autorin weismachen will.

Gewiss: Der Direktorin des Potsdamer Einstein Forums, die Philosophie in Yale und an der Universität von Tel Aviv lehrte, gelingt es tatsächlich über weite Strecken, die komplexe Geschichte einer Kritik des Bösen flüssig Revue passieren zu lassen. Das gilt vor allem für die Passagen, die sich mit den Denkern des 18. Jahrhunderts befassen. Wie Neiman hier den Weg in die Aufklärung nachzeichnet, die mit der Einordnung des verheerenden Erdbebens von Lissabon (1755) ihre liebe Not hatte, ist als unprätentiöse Einführung empfehlenswert.

Selbst Immanuel Kants Behauptung, das Problem des Bösen zu lösen sei nicht allein unmöglich, sondern auch unmoralisch, erklärt Neiman dem Leser mit ausdauernder Geduld. Kants moralischer Rigorismus gipfelte in der Forderung, der vernunftbegabte Mensch habe seine Handlungsmaximen so zu entwerfen, wie ein Weltschöpfer seine Naturgesetze. Dies führte Kant zu der radikalen Konsequenz, man habe einen im eigenen Keller versteckten, verfolgten Freund selbst dann nicht durch eine Notlüge zu retten, wenn sein Mörder an der Tür nach ihm frage. Neimans Darstellung überzeugt hier nun gerade deswegen, weil sie Kant dort ernst nimmt, wo man ihn seit Nietzsche nur noch als Witzfigur sah: in seinem Sinn für das Tragische. „Die Tragödie ist real. Kant durchschaut, wie viele unserer Fehler durch den Wunsch, Gott zu sein, verursacht sind, aber nicht weniger scharfsichtig erkennt er, dass uns oft nur zu helfen wäre, wenn wir wirklich Gott wären.“

Neiman weiß, wie heikel es sein kann, verschiedene Manifestationen des „Bösen“ aus verschiedenen Zeiten nebeneinander zu stellen. Das Erdbeben von „Lissabon mit Auschwitz zu vergleichen, mag nicht nur falsch, sondern monströs erscheinen, denn damit läuft man Gefahr, Auschwitz entweder mehr oder weniger als Naturkatastrophe zu nehmen und seine Architekten zu entschuldigen, oder den Schöpfer mit Verbrechern übelster Sorte zu vergleichen“, warnt sie schon im Vorwort. Dennoch schießt sie zum Schluss in ihrem Plädoyer für Hannah Arendts Totalitätstheorie über das Ziel hinaus. Lissabon, Auschwitz, Adolf Eichmann, Ödipus und der 11. September purzeln hier plötzlich munter durcheinander und bestätigen den Eindruck, der schon in den vorangegangenen Abschnitten über das 19. Jahrhundert Kontur gewann: Neiman geht im Lauf ihrer Abhandlung schlicht die Puste aus.

Schlicht gescheitert ist Neiman in ihrer desaströsen Konterkarierung des 11. September mit Auschwitz. Während sie die Intention der NS-Massenvernichtung hinter der Arendt’schen These der „Banalität des Bösen“ verblassen lässt, betont sie die genaue Planung und die „jahrelange Koordination“ als spezifisches Charakteristikum der Al-Qaida-Anschläge. „Es kommt darauf an, klar zu denken“, schreibt die Autorin gegen Ende ihres Buchs. Genau dies ist ihr nicht durchgängig gelungen.

Susan Neiman: „Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie“. Aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 492 Seiten, 32,90 €