Manual Cunts kategorischer Imperativ

„Gib den Leuten, wonach sie verlangen“: Das Amerika, das der letztjährige Booker-Preisträger DBC Pierre in seinem fiesen, unwiderstehlichen und jetzt ins Deutsche übersetzten Roman „Jesus von Texas“ beschreibt, ist uns dank Erfurt und Endemol leider sehr viel näher, als wir wahrhaben wollen

„Merkt ihr, was Ärger für eineirre Ausstrahlung hat? Ärger rockt, verdammt!“

VON KOLJA MENSING

Früher war Martirio einmal der zweithärteste Ort von Texas. Heute ist die Stadt nur noch eine lose Ansammlung von vierstöckigen Mietshäusern und Fastfood-Läden. In den heruntergekommenen Wohnsiedlungen verwüsten Wildkaninchen die Vorgärten, während die Frauen der Nachbarschaft liebevoll die Ölpumpen dekorieren, die zwischen den Grundstücken stehen. Hier bleibt man gerne unter sich, und zweihundert Jahre Inzest haben dazu geführt, dass jeder zweite Einwohner den Familiennamen Gurie trägt: „Öl, Karnickel und Guries – das ist es, was Martirio anzubieten hat.“

Doch dann erschießt Jesus Navarro, der Sohn mexikanischer Einwanderer, an einem Dienstagmorgen in der Highschool 16 Schüler und sich selbst. Heerscharen von Journalisten und Anwälten reisen an, Deputy Vaine Gurie fordert ein Swat-Team an, und in der Bar-B-Chew-Barn, dem beliebtesten Grillimbiss von Martirio, trägt die Belegschaft Schwarz. „Die Normalität ist schreiend aus der Stadt geflohen, wahrscheinlich für immer“, stellt Vernon Gregory Little während seines Verhörs im Büro des Sheriffs fest. Er war der beste Freund des Amokläufers und steht unter dem Verdacht, an dem Massaker beteiligt gewesen zu sein. Vernon ahnt, dass er auf dem besten Weg ist, sich „ans Kreuz nageln zu lassen“ und genauso wie sein Freund für Martirio den Opfertod zu sterben: „Jesus von Texas“ heißt dieser Roman, mit dem der in Australien geborene Schriftsteller DBC Pierre vergangenes Jahr mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden ist. Jetzt ist er auf Deutsch erschienen.

Vernon, der ständig fluchende Ich-Erzähler, ist fünfzehn Jahre alt und echter White Trash. Sein Dad ist tot, seine Mom diskutiert mit ihren übergewichtigen Freundinnen stundenlang über die Vorteile der Pritkin-Diät, und auf dem Sparkonto für seine Ausbildung befinden sich genau 2 Dollar und 41 Cent. Vernon, der sich wie eine „faulige Hülle sinnloser Markennamen“ fühlt, hätte vermutlich genug Gründe für einen Amoklauf gehabt. Tatsache ist jedoch, dass er zum Zeitpunkt des Massakers überhaupt nicht in der Schule war, sondern in einem Gebüsch am Stadtrand mit anfallartigen Verdauungsproblemen zu tun hatte. Darüber schweigt er lieber bei der Vorverhandlung und macht auch keine Angaben zu dem Unterwäschekatalog seiner Mutter, den der Sheriff in seinem Zimmer gefunden hat und nun als Beleg für die schlechte Sozialprognose des Angeklagten präsentiert. Es ist eine der ersten Lektionen, die Vernon lernt. Ein analfixierter Teenager mit einer Vorliebe für Höschen kommt in der Öffentlichkeit lange nicht so gut an wie ein mutmaßlicher Massenmörder: „Merkt ihr, was Ärger für eine irre Ausstrahlung hat? Ärger rockt, verdammt!“

„Trouble fucken rocks.“ Das ist der kaputte Sound der broken homes in White America, den man dank der expliziten Lyrics von Fred Durst oder Eminem auch hierzulande längst im Ohr hat. Der Übersetzer Karsten Kredel hat sich darum ganz richtig dafür entschieden, eine Menge Amerikanismen zu verwenden und sich an viele der schönen Wortspiele gar nicht erst heranzuwagen. Auch dann nicht, wenn es um deutsche Leitkultur geht: „Hey, Mann, erinnerst du dich an den Großen Denker, den wir letzte Woche in der Schule hatten?“, fragt Jesus Navarro seinen Freund am Tag des Amoklaufes. „Der wie ,Manual Cunt‘ klang?“, fragt Vernon zurück und macht aus Immanuel Kants Namen etwas, das sich frei als „handbetriebene Fotze“ übersetzen ließe. Aber die würde sich eben nicht mehr in den anzüglichen rhyming slang einfügen, der sich durch diesen irgendwie ziemlich respektlosen Roman zieht.

Jesus Navarro ist es im Übrigen tatsächlich Ernst mit dem deutschen Philosophen, „der gesagt hat, dass nichts tatsächlich passiert, solange man es nicht passieren sieht.“ So fasst man in Martirio, Central Texas, die Formulierung aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ zusammen, dass einem „niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann“. Der zeitgemäße Umkehrschluss ist Vernons zweite wichtige Lektion: Es passiert nur das, was man im Fernsehen sieht, und nicht die Justiz, sondern CNN entscheidet über den Ausgang seines Falls. Der schmierige Reporter Eulalio „Lally“ Ledesma hat sich konsequenterweise zum Chefankläger ernannt und führt mit einigen fragwürdigen Zeugen und Gutachtern sein eigenes Verfahren gegen Vernon. Er ist es dann auch, der den flüchtigen Vernon zuletzt nach Houston in den Todestrakt bringt und dort ein paar Kameras für das „ultimative Reality-TV“ installiert.

Es ist schon merkwürdig, wenn die Jury des britischen Booker-Preises DBC Pierres bitteren Roman ausgerechnet dafür lobt, dass er „unsere Besorgnis und unsere Faszination durch das moderne Amerika spiegelt“, oder die FAZ in „Jesus von Texas“ vor allem „eine Satire über die Gewaltkultur in den Vereinigten Staaten“ sieht. Schließlich haben wir in Europa und insbesondere in Deutschland längst eigene, blutige Schulhofmassaker – und wenn Endemol und die Chefredaktion der Bild-Zeitung über die Wiedereinführung der Todesstrafe zu entscheiden hätten, könnten wir auf RTL längst die äußerst makabre Variante der „Big-Brother“-Show sehen, die Lally im Roman live aus dem Staatsgefängnis überträgt. DBC Pierres Amerika ist uns näher, als wir es wahrhaben wollen.

Media rules the world. Darum hatte auch die Kulturgemeinschaft des alten Europa so euphorisch auf die Lebensbeichte reagiert, die Peter Warren Finlay, wie der Autor wirklich heißt, kurz vor der Entscheidung über die Vergabe des Booker-Preises in einem Zeitungsinterview abgelegt hatte. Das Pseudonym DBC Pierre steht nämlich für „dirty but clean Peter“ und spielt auf die mittlerweile überwundene Drogensucht des Schriftstellers und eine beeindruckende Karriere als Kleinkrimineller an.

Böse Zungen behaupten, dass es nach diesen „Enthüllungen“ für die Jury des Booker-Preises kein Zurück mehr gegeben habe. Fest steht auf jeden Fall, dass DBC Pierre das Ganze nicht geschadet hat, und es zeigt darüber hinaus, dass er den kategorischen Imperativ der Mediengesellschaft, der am Ende seines Romans formuliert wird, tief verinnerlicht hat. „Gib den Leuten, wonach sie verlangen.“ Das ist Vernon Gregory Littles dritte und letzte Lektion. Dass er sie im Gefängnis ausgerechnet von einem passionierten Axtmörder lernt, ist eine der vielen hinterhältigen Pointen, die dieses Buch so unwiderstehlich machen.

DBC Pierre: „Jesus von Texas“. Aus dem Amerikanischen von Karsten Kredel, Aufbau Verlag, Berlin 2004, 383 Seiten, 19,90 €