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Archiv-Artikel

Erst unter null, dann Liebe hoch drei

Die Liebesgeschichte zwischen einer in London lebenden und in New York lehrenden Schriftstellerin und ihrer Heimatstadt Karatschi: Kamila Shamsie sorgt mit ihrem dritten Roman, „Kartographie“, dafür, dass das Pakistan der Gegenwart nicht länger ein weißer Fleck auf der literarischen Landkarte ist

Kamila Shamsie versucht sich mit ihrem Roman an einer Kartierung Karatschis genauso wie an einer Kartierung der politischen Geschichte Pakistans

VON KATHARINA GRANZIN

Karatschi ist Kamila Shamsies Stadt. In der pakistanischen Hafenstadt wurde sie 1973 geboren, sie ist dort aufgewachsen und zur Schule gegangen, und alle ihre Bücher spielen dort. Ihr erster Roman, „In the City by the Sea“, trägt die Stadt sogar im Titel. „Ich möchte über nichts anderes schreiben als über Karatschi“, sagte sie einmal in einem Interview. Diese Besessenheit von der alten Heimatstadt ist eher ungewöhnlich für eine junge Frau, deren Lebensweg ansonsten recht typisch scheint für ihre privilegierte Peergroup: jene Scharen von südasiatischen, englisch erzogenen Intellektuellen, die ihren Lebensmittelpunkt längst ins westliche Ausland verlagert haben, sich dort im Fiction-Writing versuchen und dabei zumeist um die literarische Verortung einer neuen, west-östlichen Identität bemüht sind. Auch Kamila Shamsie unterrichtet die meiste Zeit in New York Creative Writing und lebt im Übrigen in London, legt jedoch viel Wert darauf, große Teile des Jahres in Karatschi zu verbringen. Identitätsprobleme scheint sie dabei nicht zu haben. In ihrem Schreiben geht es vor allem um eines: Pakistan.

Als pakistanische Schriftstellerin nimmt sie auf dem Buchmarkt der westlichen Welt eine Sonderstellung ein. Denn während die indische englischsprachige Literatur im letzten Jahrzehnt einen regelrechten Boom erlebt hat, lässt sich das für ihr pakistanisches Pendant noch nicht in gleicher Weise behaupten. Zwar gibt es mittlerweile eine Hand voll AutorInnen, die, englisch schreibend, einer internationalen Leserschaft zugänglich sind. Ins Deutsche übersetzt aber wurde bisher sehr wenig bis fast nichts. Lediglich die Autorin Bapsi Sidhwa, eine Generation älter als Shamsie, erlebte mit ihrem Roman „Ice-Candy Man“ (verfilmt unter dem Titel „Cracking India“) über die Teilung Indiens immerhin mehrere deutsche Ausgaben. Auch die frühen Romane Salman Rushdies – dessen Familie von Indien nach Pakistan umsiedelte, als Rushdie siebzehn war – kreisen in weiten Teilen um die dramatische Entstehungsgeschichte des Landes. Und das war’s auch schon. Das zeitgenössische Pakistan aber ist ein weißer Fleck auf der literarischen Landkarte des Westens.

Auch Kamila Shamsie kommt mit „Kartographie“ eher spät in die deutschen Buchläden, denn dies ist bereits ihr dritter Roman. Und gleichzeitig derjenige, dessen Handlung sich am weitesten in die Gegenwart vorwagt. Er erzählt die Geschichte der jungen Raheen und ihrer innigen Kindheitsfreundschaft mit dem gleichaltrigen Karim, Sohn der besten Freunde ihrer Eltern, aus der eigentlich die große Liebe hervorgehen könnte. Doch so einfach ist es natürlich nicht. Raheen, Karim und ihre Freunde wachsen wohl behütet in der Highsociety von Karatschi auf. Trotz gewalttätiger Unruhen, die die Stadt schon in den Achtzigerjahren immer wieder erschüttern, führen die Teenager ein sorgloses, gut abgeschirmtes Dasein in den luxuriösen Häusern ihrer Eltern und den Clubs der Stadt. Von einem Ort zum anderen bewegt man sich ausschließlich mithilfe teurer Autos. Dass dies auch eine Beschränkung darstellt, fällt Raheen erst auf, als sie und Karim von den besorgten Eltern eine Weile aufs Land geschickt werden. Karim, der sich als Sohn einer Bengalin immer stärker als Angehöriger dieser stark marginalisierten Minderheit definiert, reagiert sensibler auf die äußere Bedrohung. In ihm wächst der Wunsch, Kartograf zu werden und als erster einen Stadtplan der bisher unkartierten Großstadt Karatschi zu erstellen. Raheen dagegen besteht darauf, die Straßen nach Ortssitte nicht bei ihrem offiziellen Namen zu nennen, sondern anhand individueller Erinnerungen zu beschreiben. Sie begreift nicht, dass diese Form der Kommunikation auf eine eng definierte soziale Gruppe beschränkt bleiben muss. Noch die erwachsene Raheen, die als Studentin in den USA lebt, reagiert gereizt auf Karims demokratischen Hang zur Kartografie und seine ostentativ politische Haltung. Die Kartografie als titelgebende Metapher hat mehrere Konnotationen. Zum einen ist es der Roman selbst, der eine Kartierung Karatschis versucht, indem die Kreise, die Raheen und ihre Freunde ziehen, immer weiter werden, öffentliche Schauplätze eine immer größere Rolle einnehmen und Raheen somit allmählich heraustritt aus ihrer ignoranten Haltung gegenüber der Außenwelt.

Des Weiteren hat die Geschichte Pakistans selbst – und hier ist Shamsie wieder mitten im großen Thema der historischen Selbstvergewisserung – immer wieder dafür gesorgt, dass Kartografen Arbeit hatten. Hervorgegangen aus der Teilung Indiens, nahm der junge islamische Staat anfangs recht viel Platz auf den Karten ein, bis sich im Bürgerkrieg von 1971 das bengalische Ostpakistan von Westpakistan abspaltete und zu Bangladesch wurde.

Dieses nationale Trauma fällt im Roman zusammen mit der Vorgeschichte von Raheens und Karims Eltern, die in Andeutungen den gesamten Roman durchzieht. Ursprünglich hatte Raheens Vater Karims Mutter, die Bengalin, heiraten wollen. Raheen ahnt, dass die Geschichte des Partnertauschs der Eltern einen Schatten auf das Bild ihres geliebten Vaters werfen könnte, weiß jedoch nicht, dass es diese Vorgeschichte ist, die zwischen ihr und Karim steht. Erst als Erwachsene ist sie bereit, die Wahrheit zu hören. Ihre Aufklärung findet zu einer Zeit statt – Mitte der Neunzigerjahre –, als die Gewalt auf Karatschis Straßen in regelrechten Massakern kulminiert. Zur gleichen Zeit findet Raheens beste Freundin sich wegen einer aus dem Ruder gelaufenen Intrige als verlassene Braut wieder – ein Motiv, das, wie Raheen von ihrem Vater erfährt, die Geschichte zu wiederholen scheint.

Es steckt eine Menge in diesem Roman, wahrscheinlich sogar etwas zu viel. Mit der Landkarte als zentraler Metapher hat Shamsie sich so viele Möglichkeiten eröffnet, dass sie die politische Geschichte eines Landes in einer Liebesgeschichte, die Liebesgeschichte in der Hommage an die Heimatstadt und diese wieder in einer Liebesgeschichte verpacken kann. Dazu kommt der Entwicklungsroman, den die Ich-Erzählerin zu absolvieren hat, trägt sie doch die gebündelte Kritik der Autorin an der dekadenten Selbstgenügsamkeit der pakistanischen Highsociety auf ihren Schultern.

Dass Raheens betonte mentale Beschränktheit mitunter recht gezwungen wirkt und ihre große Lovestory insgesamt etwas papieren gerät, ist zu verschmerzen. Denn trotz allem erzählt Shamsie ihre komplizierte Geschichte mit großer Leichtigkeit. Und die Liebesgeschichte, auf die es wirklich ankommt, ist ohnehin die zwischen der Autorin und ihrer Stadt Karatschi. Gestern noch eine Großstadt ohne Stadtplan, heute dank Shamsie ein deutlich sichtbarer Punkt auf der literarischen Landkarte.

Kamila Shamsie: „Kartographie“. Aus dem Englischen von Anette Grube. Berlin Verlag 2004, 416 Seiten, 24 €