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Archiv-Artikel

Ein Ex-Minister wird giftig

von REINER METZGER

Norbert Blüm ist vielen bekannt als der ewig lächelnde, ewig unter Helmut Kohl dienende kleine Arbeits- und Sozialminister. Er war der einzige Minister, der die ganzen 16 Jahre der Bundesregierung Kohl im Amt aushielt. Stoisch duldete der gelernte Werkzeugmacher mit Hilfe seiner katholischen Prägung wiederholte Demütigungen durch den Alten im Kanzleramt.

Umso bemerkenswerter ist nun Blüms scharfer Ton bei einem Fachthema aus seinem ehemaligen Ressort. In einer „öffentlichen Mitteilung“ kritisierte er die Praxis bei der Anerkennung von Chemie-Berufskrankheiten. Dort herrsche eine „menschliche Niederträchtigkeit“, vor der er „nur Abscheu empfinden“ könne, so Blüm. Der Mehrheit der Geschädigten würde die Anerkennung verweigert. „Ursache dafür ist eine prägnant falsche Darstellung der Erkrankung […] im Merkblatt für Ärzte zur Berufskrankheitanzeige“, so Blüm. Das amtliche Merkblatt stehe im krassen Gegensatz zu den wissenschaftlichen Grundlagen, schreibt Blüm weiter. Seine „Mitteilung“ wurde durch die Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IkU) der taz bekannt (siehe Kasten).

Blüm sieht eine „wohlorganisierte Falschdarstellung“ einer kleinen Gruppe von medizinischen Gutachtern. Diese hätten das Einzelinteresse der zuständigen Versicherungen, der Berufsgenossenschaften, über das Allgemeinwohl gestellt. Zuständig auf Bundesebene ist vor allem das heutige Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS) von Ulla Schmidt sowie das Ressort Wirtschaft und Arbeit von Wolfgang Clement (beide SPD).

Offiziell handelt es sich um die Berufskrankheit „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“, kurz BK 1317. Sie beschreibt die Erkrankung des Nervensystems nach dem Kontakt mit Chemikalien wie Toluol oder Trichlorethylen. Ob nun zur Reinigung von Metallteilen oder Textilien, zur besseren Lösung von Pestiziden oder als Trägersubstanz von Farbteilchen in Lacken – die giftigen und meist leicht in die Luft verdampfenden Stoffe sind in Industrie und Haushalt überall vorhanden. Weil sie das zentrale Nervensystem schädigen, verursachen sie vielfältige Symptome. Häufig leiden Betroffene an Gedächtnisschwund, Müdigkeit und allergischen Schocks.

Verlässliche amtliche Zahlen sind für Deutschland nicht bekannt. Toxikologen wie der langjährige bayerische Umweltconsultant Tino Merz oder Betroffenenverbände sprechen von tausenden bis zehntausenden Erkrankten jährlich (siehe taz vom 5. 2. 2004). Das US-amerikanische Arbeitssicherheitsinstitut NIOSH geht für die USA von 9,8 Millionen Arbeitern aus, die im Beruf den organischen Lösungsmitteln ausgesetzt sind.

Die von Blüm nun angesprochene Berufskrankheit 1317 wurde unter seiner Ägide im Jahr 1997 eingeführt, sowohl die wissenschaftlichen Voraussetzungen als auch die kritisierten Diagnoseempfehlungen von Sachverständigen seines Ministeriums erarbeitet. Mit der fraglichen Berufskrankheit sollte eine angemessene Entschädigung derjenigen geregelt werden, die durch Lösungsmittel am Arbeitsplatz dauerhaft zu Schaden kommen.

Die PDS-Abgeordnete Petra Pau versuchte jetzt mit einer Anfrage im Bundestag die offizielle Zahl der Arbeiter herauszufinden, die berufsbedingt Lösungsmitteln gemäß BK 1317 ausgesetzt sind. Die Antwort durch den parlamentarischen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Ditmar Staffelt, folgte diesen Mittwoch: Weil die Lösungsmittel „in nahezu allen Branchen der gewerblichen Industrie […] zur Anwendung kommen“, habe die Bundesregierung keine Kenntnis über die genaue Zahl derjenigen, die den Stoffen berufsbedingt ausgesetzt sind. Es sei jedoch „von einer großen Zahl auszugehen“. Gering hingegen ist die Zahl der Anerkennungen als Berufskrankheit 1317: In den drei Jahren von 2000 bis 2002 seien es nur 43 Fälle gewesen, so Staffelt im Bundestag. Wie sich die Diskrepanz zwischen der Menge der Betroffenen und dem kleinen Häuflein der anerkannt Chemie-Berufskranken erklärt, konnte die Bundesregierung auf Nachfrage bisher nicht sagen.

Die berufsbedingt Chemiekranken samt dem Verhältnis von Gutachtern und Berufsgenossenschaften waren und sind jedenfalls kein Thema in der Politik, sei sie nun rot, grün oder schwarz. Initiativen im Bundestag zur Behebung der Misere versandeten – obwohl Krankenkassen und damit auch Beitragszahler und Finanzminister jährlich viel Geld sparen könnten.

Exminister Blüm hingegen fordert, dass die kritisierte Gutachterpraxis Folgen haben muss „im Sinne von unmittelbarem Regress in Bezug auf den entstandenen Schaden und im Sinne von Kontrolle“. Im Gegensatz zur bisherigen Praxis müssten etwa die Protokolle solcher Sachverständigengremien öffentlich zugänglich gemacht werden. „Eine verursachergemäße Zuordnung der Kosten würde zu einer massiven Entlastung der Beitragszahler (Lohnnebenkosten) führen“, so der Exsozialminister. Denn die Schäden durch Berufskrankheiten muss die Industrie über ihre Berufsgenossenschaften zu 100 Prozent selbst bezahlen. Kann sie die chronisch Kranken hingegen auf die allgemeine Versicherung abwälzen, zahlen die Arbeiter über ihre Krankenversicherung und der Staat gut die Hälfte mit. So wird die neue Berufskrankheit nicht zu einer Gefahr für den Profit, sondern zu einem guten Geschäft. Da kann sich selbst ein Blüm schon mal aufregen.