Bad style, sad style

„Fänger im Roggen“ und Trainspotting für die nächste Generation: „Schneeweiß und Russenrot“, der starke und mit hohen Drehzahlen spielende Debütroman der 22-jährigen Polin Dorota Maslowska

VON HENNING KOBER

Gut oder schlecht, was willst du zuerst hören? So beginnt diese Geschichte. Andrzej Robakowski hat die Wahl, natürlich entscheidet er sich zuerst für gut. Das ist schließlich Einstellungssache, und sein Charakter trägt durchaus verschwenderische Züge. Da ist ein Krieg ausgebrochen in der Stadt. Ein polnisch-russischer Krieg unter weiß-roter Fahne. Dann die schlechte Nachricht. Magda, die Freundin, lässt ausrichten, dass Schluss ist. Aus. Vorbei. Die Botin ist Arleta, eine Mädchen-Freundin. Miese, dumme Situation für Andrzej, genannt der „Starke“, der in dieser Bar sitzt, wo sie immer sitzen in einer nicht näher benannten polnischen Stadt. Die Realität ist ein tristes Bild. Um ihn Spielautomaten, billiges Chrom und die immer gleichen Gesichter. Freund Kacper kommt angefahren, „klar auf Speed, er tritt die Pedale“. Magda ist natürlich auch da, dreht sich mit ihren langen Haaren durch die Szene. Ekel kitzelt den Starken. Weil Magda stinkt, nach billigen russischen Zigaretten und der Gier nach frisch ins Glas geschüttetem Speed. Die Hand des Freundes auf seiner Schulter schüttelt der „Starke“ ab. Wie kommt er dazu, „mir zu sagen, wie mein Leben aussieht, was meine Gefühle sind?“.

Es brennt ein Feuer in Andrzej. Sein Zunder ist die Sehnsucht. Die nach Liebe und einem besserem Leben. Dazu der Abscheu vor der farblos-verdorbenen Umgebung. Es ist der gleiche Takt, der Franz Biberkopf in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Holden Caulfield in „Der Fänger im Roggen“ antreibt. Andrzej ist ein Charakter, der rennt und sich dabei den Kopf blutig schlägt. Der „Starke“ sucht das „starke Gefühl“, dem er aus Mangel an Alternativen auch das Verderbliche vorzieht, anstatt sich in eine langweilige, stumpfe Sicherheit zu flüchten.

Chronistin des „Starken“ ist, das ist die Überraschung dieses 240-Seiten-Rausches, ein Mädchen. Sie hat einen dicken Strumpf gestrickt. Die 22-jährige Dorota Maslowska war 18 Jahre alt, als sie der Legende nach innerhalb eines Monats neben dem Abitur diesen genauen Abstrich einer rau-sensiblen Jungenseele aufs Papier brachte. In Polen bereits ein Star, ausgezeichnet mit dem renommierten Preis des polnischen Magazins Polityka, wird ihr Buch mittlerweile in mehr als zehn Sprachen übersetzt. Es wird gemunkelt, eine Verfilmung stehe bevor. Trainspotting für die nächste Generation.

Dem frischen Ruhm entzieht sie sich klug. Für ihren deutschen Verlag, der gerne Interviews vermitteln möchte, bleibt sie unerreichbar. Die Frau hat den Schleier gewählt, bleibt geheimnisvoll. Im Internet finden sich einige Bilder von ihr. Da zeigt sich ein schönes Mädchen mit blauen Augen, an der Schwelle zur jungen Frau. Im Gesicht noch ein Hauch Pausbäckigkeit, um die Nase ein verdächtiger Schweißfilm. Die Haare dunkelblond, um den Hals, welch Ironie, ein mit rot funkelnden Steinen besetztes Kreuz. Ganz nah drückt sie ihr Gesicht in die Kamera, aus ihrem Mund tropft ein großer Batzen Spucke. Offensichtlich eine Wiederholung der Fotoserie von Macaulay Culkin auf dem Cover des englischen Magazins The Face im November 2002. Culkin erklärte dort in einem Interview sein Comeback nach jahrelanger Drogensucht und Kreditkartenrausch. Die Identifizierung mit Culkin, dem sündigen Role Model für die teuflische Verschmelzung des scheinbar unschuldigen Körpers mit böse-verspielten Gedanken, bekräftigt, was Maslowskas Buch nahe legt: In ihrem Kopf spielt ein sympathisch verdorbener Realismus.

Schöne Wortideen wie „Vorhautflattern“, vom Übersetzer Olaf Kühn galant ins Deutsche gerettet, gehen auf ihr Konto. Die Erregung seines „Schorschs“ deutet sich Andrzej als „seine Art, mich anzulächeln“. In eine brutal authentische Sprache kleidet sich dieser Splatterfilm, der Andrzejs Leben ist. Die Frauen spucken sich ins Auge, sehen aus wie „Sado-Maso Gothic Nutten“. Bluten aus verätzten Nasen. Sie heißen Magda, Angela, Ala und kommen alle nicht gut weg.

Da ist Magda, die kurz nach dem von der Freundin ausgerichteten Ende vollgeknallt mit zuckenden Waden auf der Toilette liegt und um Hilfe bettelt. Bad style. Da ist Angela, die sich als Tierrechtsaktivistin gebärdet und sich so gierig die eben noch unberührte Nase pudert, dass sie nicht mehr mitbekommt, wie sie hier gerade ihre Jungfräulichkeit verloren hat. Sad style. Da ist Ala, die so bieder ist, dass „kein Normaler in der Lage ist, sie nüchtern zu stoßen“, und tatsächlich glaubt, in Andrzej einen Jungen für eine „ernsthafte, kultivierte Beziehung“ kennen gelernt zu haben. Worst style.

Andrzej lässt die Unerträglichkeit seiner Umwelt zynisch spottend und heroisch gleichgültig über sich ergehen. Er weiß, dass ihm das tiefe Kerben in die Psyche schlagt, aber sein Rezept ist nicht der Weg nach draußen, sondern die Flucht an den Badezimmerschrank im spießigen Reihenhaus der Angela-Lehrereltern. Viel Nervosol und Panadol hilft, beruhigt für den Moment, aber dann geht es weiter abwärts auf der Schiene des Verfalls.

Die Personen sind so wahrhaftig, dass sich Maslowska nicht mal scheut, ihre Protagonisten im Motiv des polnisch-russischen Kriegs offen mit Patriotismus spielen zu lassen, der für unsere Augen eindeutig rassistische Züge trägt. „Alles scheißegal“ ist die Lokomotive dieses Buches, das sich der menschlichen Wahrheit verpflichtet sieht, nicht dem kultivierten Lebenskompromiss. Befeuert wird der Kessel durch eine von allen – bis auf Ala – ununterbrochen selbst verschriebene Medizin, die die Wahrhaftigkeit verspricht. Zack, zack, klein machen, schieben, ziehen. Schonungslos greller lässt sich dem Leben nicht zwischen die Augen schauen. Weisheit tanzt, schon ganz jung, das ist die gute Nachricht. Die schlechte, leider: Weisheit frisst das Leben auf, schnell. Das Ende ist traurig.

Dorota Maslowska: „Schneeweiß und Russenrot“. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Kiepenheuer & Witsch 2004, 240 S., 7,90 Euro