: Wettrüsten im Wilden Westen
Ewgeni Pluschenko wird wie gewohnt weltbester Eiskunstläufer, aber der Generationenwechsel hat begonnen
AUS DORTMUND MATTI LIESKE
„Das war die härteste Weltmeisterschaft, die ich erlebt habe“, stöhnte Ewgeni Pluschenko, und der 23-jährige Eiskunstläufer weiß, wovon er redet, war es doch bereits seine sechste. Okay, da hätte es die Duelle mit seinem großen Rivalen Alexej Jagudin gegeben, „aber das hier war etwas anderes“.
In der Tat: Man kann sich vorstellen, wie die Augen Pluschenkos, der nach dem Kurzprogramm führte und als Letzter aufs Eis der Westfalenhalle ging, immer größer wurden, als er sah, was die Läufer vor ihm so alles veranstalteten. Besonders die der letzten Startgruppe ließen ein solches Gewitter schwierigster Sprünge, Pirouetten und Schrittkombinationen über das Publikum hereinbrechen, dass altgediente Beobachter von der besten WM sprachen, die die Männer seit langer, langer Zeit geboten hätten. Sie waren zuletzt oft die Sorgenkinder gewesen, da Technik, Kondition und Kraft nicht mit der Waghalsigkeit ihrer Programme mithielten und die Kürdarbietungen zu schauerlichen Sturzfestivals gerieten. Wie einst im Wilden Westen hatte schließlich meist derjenige gewonnen, der am Ende noch stand. Inzwischen jedoch scheint die Harmonie zwischen Qualität und Ambition wiederhergestellt zu sein.
Zudem ist die pure Konzentration darauf, möglichst viele Vierfach- und Dreifachsprünge in den viereinhalb Minuten Kür unterzubringen, einer stärkeren Berücksichtigung der künstlerischen Seite gewichen. Da die Topläufer nun alle ungefähr die gleichen Höchstschwierigkeiten beherrschen und mittlerweile auch sicher aufs Eis bringen, ist ohne gute B-Note nichts mehr zu holen.
Das hat der französische Silbermedaillengewinner Brian Joubert, der sich bei seinen choreografischen Elementen vom Ruheständler Jagudin und dem ehemaligen Eistänzer Gwendal Peizerat beraten lässt, ebenso beherzigt wie der sensationelle Bronzemedaillengewinner Stefan Lindemann aus Erfurt oder der 19-jährige Amerikaner Johnny Weir.
Bei Stephane Lambiel, dessen Kür das Publikum neben der von Lindemann am meisten begeisterte und sogar die Paarlauf-Weltmeisterin Tatjana Totmianina auf der Aktiventribüne zu Beifallsstürmen hinriss, spielte das Künstlerische ohnehin stets eine herausragende Rolle. Der 18-jährige Schweizer, der von Lindemanns fast makellosem Auftritt auf Rang vier verwiesen wurde, hat die atemberaubendsten Pirouetten aller Starter im Repertoire, was sich auch geziemt, schließlich stammt er aus dem Land der einstigen Schwurbelkönigin Denise Biellmann. Diese war übrigens auch die Ursache frühkindlicher Quälereien, denen Ewgeni Pluschenko ausgesetzt wurde. Schon im zarten Alter von vier Jahren verbog ihm seine treu sorgende Mutter die Beine, auf dass er eines Tages die Biellmann-Pirouette beherrsche. Heute ist diese Übung fester Bestandteil seiner Kür – ein wahrhaft braver Sohn.
„Lambiel hatte zwei Vierfachsprünge, und Joubert hatte zwei Vierfachsprünge, also musste ich das auch machen. Das ist hart. Und dann musste ich noch ein bisschen mehr machen“, erläuterte Pluschenko seine Befindlichkeit vor dem Auftritt. Noch einmal verlieren, wie bei der EM gegen Joubert, das wäre für den ehrgeizigen Russen mit der Brian-Jones-Frisur eine Majestätsbeleidigung ersten Grades gewesen.
Also tat er alles, was nötig war: Zwei vierfache Toeloops, etliche Dreifachsprünge, eine weltweit einzigartige Dreierkombination, eine ausgefeilte und ausgefallene Präsentation. Der kleine Purzler kurz vor Schluss, als er rückwärts zu einem weiteren dreifachen Rittberger anlief, fiel da nicht weiter ins Gewicht. Pluschenko schob den Lapsus, der ihn plötzlich, anstatt galant durch die Luft schweben zu lassen, ganz unelegant auf dem Allerwertesten übers Eis rittbergern ließ, auf eine herumliegende Paillette, die sich vom Kostüm gelöst hatte. Die Preisrichter werteten das Geschehene denn auch nicht als Sturz, sondern als Ausrutscher, Gold war Pluschenko nicht mehr zu nehmen. „Ich hatte keine Angst. Ich habe nur gewartet, welche Noten kommen, 5,9 oder 6,0“, grinste der Russe anschließend gewohnt selbstbewusst. Tatsächlich kam einige Male die 6,0.
Die 8.000 Zuschauer in Dortmund erlebten nicht nur einen erstklassigen und packenden Wettkampf, sondern auch einen kleinen Generationswechsel im schnelllebigen Männer-Eiskunstlauf. Nur 13 der 40 Starter bei dieser WM waren schon bei Olympia 2002 dabei, Pluschenko und Lindemann sind mit ihren 23 Jahren schon Veteranen. Es fehlte nicht nur der von Hüftproblemen zermürbte Olympiasieger Jagudin, der seine Karriere beendete, ebenso wie vorher Elvis Stojko und Todd Eldredge, sondern wegen Verletzung auch der Amerikaner Tim Goebel, in Salt Lake City als „Quad King“, König der Vierfachsprünge, gefeiert, oder der Japaner Takeshi Honda, zuletzt zweimal WM-Dritter. Der Verschleiß ist groß, die vielen Sprünge belasten besonders die Knie. Auch Pluschenko muss sich im Sommer wahrscheinlich am Meniskus operieren lassen. Der Russe ist jetzt der Gejagte, neben Joubert, Lambiel, Lindemann und Weir rücken ihm mit dem Russen Andrej Griatsew und dem Japaner Daisuke Takahashi die Junioren-Weltmeister der letzten Jahre auf die Pelle.
Ernsthaftester Verfolger ist jedoch der 19-jährige Joubert, „ein cooler Typ“ (Lindemann), der das Wettrüsten trotz allen körperlichen Raubbaus voll in Gang setzt. Während Pluschenko nächste Saison einen anderen Vierfachsprung, vermutlich den Lutz, und eine weitere Dreierkombination ins Programm nehmen will, plant Joubert eine Kür mit drei Vierfachsprüngen. Eine ungeheure konditionelle Herausforderung, die im Training aber schon geklappt habe.
Der Franzose hat keine Scheu, seine Ziele klar und offensiv zu formulieren. Im nächsten Jahr will er den WM-Titel, ausgerechnet in Moskau, auf jeden Fall aber Olympia-Gold 2006 in Turin. Im Lager Pluschenkos hört man solche Kampfansagen mit Sorge. „Du machst mich nervös“, rief Pluschenkos berühmter Trainer Alexej Grischin, der während Jouberts Pressekonferenz mit russischen Journalisten sprach und dabei etwas laut wurde, dem Franzosen zu. Eigentlich sollte es scherzhaft klingen.