: Der zersägte Mann
Nach seiner Hinrichtung wurde J. Paul Jernigan zum ersten digitalen Atlas der Anatomie verarbeitet. Der Dokumentarfilm „Blue End“ erzählt die Geschichte des Menschen hinter dem Körper im Internet
VON DIETMAR KAMMERER
In den Werbebroschüren heißt Joseph Paul Jernigan nur noch „visible human male“. Er ist der „sichtbare Mann“ – zugängig für jeden, der über einen Internetanschluss verfügt. 1993 wurde er, als Mörder zum Tode verurteilt, in Huntsville, Texas, hingerichtet. Noch im Todestrakt hatte er eingewilligt, seinen Körper der Wissenschaft zu vermachen.
Was mit ihm geschehen würde, ahnte er allerdings nicht: Sofort nach der Hinrichtung wurde der Leichnam zwei Anatomen übergeben, die ihn in blaue Gelatine einfroren. Von dem so gewonnenen Block wurden 1.871 exakt millimeterdicke Schichten abgehobelt. Jeder einzelne Querschnitt wurde von Spezialkameras fotografiert und digitalisiert, um aus den so gewonnenen Daten „die erste digitale Beschreibung eines vollständigen menschlichen Wesens“ zu schaffen – den endgültigen dreidimensionalen Anatomieatlas.
Was von Jernigan übrig blieb, war blauer Staub: Sein Körper verschwand im Prozess der Abbildung. Die gewonnenen Daten wurden von Wissenschaftlern aufbereitet und für anatomische Lehrzwecke visualisiert.
„Irgendjemand muss immer zahlen für wissenschaftlichen Fortschritt“, kommentiert Viktor Spitzer, verantwortlicher Leiter des Projektes an der Universität Colorado, das Schicksal Jernigans ungerührt. Er handelte im Auftrag der US-amerikanischen „National Library of Medicine“. Diese verfolgt das ehrgeizige Ziel, anatomisches Wissen in Form von Datenbanken, Visualisierungen und dreidimensionalen Simulationen zur Verfügung zu stellen.
Mehrere hundert Universitäten und Forschungseinrichtungen in der ganzen Welt nutzen heute die Daten des „Visible Human Male“ zu Lehr- und Forschungszwecken, in Deutschland ist er unter dem Namen „Voxel-Man“ bekannt. Die Website der National Library of Medicine bietet eine Auswahl von Bildern an. Einen Hinweis auf Jernigan sucht man jedoch vergebens.
Mit „Blue End“ erzählt der Dokumentarfilmer Kaspar Kasics die Geschichte des Menschen hinter dem „sichtbaren Menschen“. Wenn man den verschiedenen Leuten zuhört, die mit Jernigan im Leben oder im Tod zu tun hatten, wird man den Eindruck nicht los, das Zersägen seines Körpers hätte niemals aufgehört – ein so widersprüchliches Bild zeichnet der Film von ihm.
Für den Bruder war Jernigan ein schwacher Mensch, der auf die falsche Bahn geriet. Die Stieftochter mutmaßt, dass er jetzt wohl eine Berühmtheit sei. Der Priester lobt Jernigans Gefasstheit im Angesicht des Todes. Der Staatsanwalt hingegen ist sich sicher: Jernigan schmort in der Hölle. Für die befragten Wissenschaftler, zu guter Letzt, ist er nur noch technische Herausforderung (wie einen geraden Schnitt führen, wie die Bilder interpretieren) und wertvolles Material (zwei Jahre war man auf der Suche nach einem geeigneten Körper).
Fröhliche Wissenschaft: Der von allen ethischen Bedenken unbekümmerte Spitzer gibt offen zu, dass es ihn nicht gestört hätte, wenn Jernigan unschuldig zum Tode verurteilt worden wäre. Der Tod sei schließlich ohnehin unvermeidbar, und man könne ja auch theoretisch von einem zusammenstürzenden Gebäude erschlagen werden. „Alles eine Frage der Statistik.“
Ein Kollege sekundiert: „Wenn man an das Rechtssystem glaubt, gibt es per definitionem nur gerechte Verfahren.“ Wenn man jedoch der Pflichtverteidigerin glaubt, hat Jernigan das gerade nicht bekommen. Mildernde Umstände – Drogenmissbrauch, schwierige Kindheit –, all das wurde von dem Geschworenengericht, das lediglich 15 Minuten brauchte, um das Todesurteil zu fällen, nicht berücksichtigt. Dass sie selbst damals zu unerfahren war, um Jernigan angemessen verteidigen zu können, gibt die Verteidigerin offen zu. Amnesty international strengte verschiedene Berufungsverfahren an, die allesamt erfolglos blieben.
„Blue End“ ist vieles: Geschichte eines verpfuschten Lebens, Plädoyer gegen die Todesstrafe, Diskurs über das Verhältnis von Ethik und Wissenschaft. Und nicht zuletzt ein mitunter erschreckender Einblick in die Institutionen, die seit Beginn der Neuzeit „den“ Menschen definieren: Medizin, Justiz, Wissenschaft. Dass auch die (alten und neuen) Medien ihren Anteil daran haben, wird vom Film nicht verschwiegen. Für die Sensationspresse war der Fall sofort klar: Im Leben ein Monster, im Tod ein (beinahe) Heiliger – erlöst durch das Opfer an die Wissenschaft, „unsterblich“ geworden dank Internet.
Dort findet man, zum Herunterladen, auch einen anderen Film über Jernigan: einen animierten „Flug“ durch die Schichten seines Körpers, „lebende Bilder“, das Körperinnere als Daumenkino. „Blue End“ bringt auch diese Bilder, die einzigen, die wir von Jernigan noch zu sehen bekommen, ein seltsames, beinahe psychedelisches Spiel von Farben und Formen, die in ständigem Wandel ineinander fließen. Doch „Blue End“ lässt nicht vergessen, dass hinter diesen faszinierenden Anmutung das kalte Erkenntnisinteresse der Wissenschaft und eine unmenschliche Justiz liegen.
„Blue End“. Regie: Kaspar Kasics. Schweiz 2000, 85 Min.