gib dir den rest auf dem everest von WIGLAF DROSTE :
Erstbesteigung ist kein schönes Wort. Da schwingt etwas Fieses mit, so ein dumpfer Entjungfererstolz: Ich bin der Erste, und was nach mir kommt, das sind bloß Zweit-, Dritt- und Viertbesteiger. Vor 50 Jahren taumelten Sherpa Tensing und Ernest Hillary zum Gipfel des Mount Everest. In Erstbesteigersprache formuliert: Sie bezwangen ihn – das klingt nach Notzucht und Ordnung. Der 50. Jahrestag der Angelegenheit hat eine Welle der Freizeitidiotie ausgelöst: Ein chinesisches Bergsteigerteam filmte sich auf der Spitze des Everest, 200 weitere Alpinisten sind noch unterwegs zum Gipfelgedränge. Stolz werden sie mit ihren Frostbeulen prahlen und allen, die sie kennen, grauenhaft auf die Nerven gehen mit endlosen Wiederholungen der langweiligen Geschichte vom größten, zumindest aber höchsten Tag ihres Lebens.
Das peinlich heldische Getue wäre leicht zu vermeiden – einfach „Tim und Sruppi“ lesen, da steht alles drin, was man über die Unsitte wissen muss, ohne Grund auf Berge zu klettern. In Hergés Comic-Klassiker „Tim in Tibet“ schwärmt der pfadfindrige Tim, just aus den Bergen kommend, Käpt’n Haddock voll: „Ich bin ziemlich kaputt … Aber zufrieden! Wie schön ist doch das Gebirge! Und dann die Luft, herb und leicht! Sie sollten mitgehen, Kapitän, nur ein einziges Mal!“
Haddock weist den Antrag zurück: „Ich …? Durchs Gebirge latschen? Kommt nicht in Frage! Als Szenerie stört es nicht weiter. Wie man aber Freude daran haben kann, über diese Steinhaufen zu klettern, verstehe ich nicht! Man muss ja doch immer wieder herunter. … Nein, von mir aus kann man die Berge abtragen! … Berge sollten verboten werden!“
Eine gute Idee, die auch sämtliche Aufstiege der Gesichtsmatratze Reinhold Messner vereitelt hätte. Der Tiroler Idi Alpin, dessen Büchern ich stets geschmeidig auswich, erwischte mich eines Tages doch: Messner veröffentlichte seine Erinnerungen auch in Form kleiner Broschüren, die Frischkäseschälchen der Marke „Cortina“ beigegeben waren, häppchenweise quasi. So erfuhr auch ich alles über den wahren Sinn aller Bergbesteigerei:
„Am 27. Juni 1970 erreichen wir den Gipfel des Nanga Parbat. Mein Bruder Günther ist sehr müde, erste Anzeichen der Höhenkrankheit stellen sich bei ihm ein. Schon beim Abstieg merke ich, dass er nicht mehr weit kommen wird. … Ich bin dem Wahnsinn nahe. … Mein Geist erhebt sich über meinen Körper. Ich sehe mich den Berg hinabrollen, doch noch einmal habe ich die Energie, in meinen Körper zurückzugehen. … Am dritten Tag dieses qualvollen Abstiegs kommt Günther nicht mehr nach. Als ich zurückgehe und die große Lawine sehe, die inzwischen abgegangen ist, ahne ich, dass er darunter begraben liegen muss, dass ich allein bin.“
Dem Grabgebinde von der Einsamkeit des Berglers fügte Messner im „Cortina“-Büchlein noch diese Weisheit hinzu: „Wenn man fit sein will, muss man auf eine gesunde Ernährung achten. Und darauf, dass es schmeckt – sonst macht das alles doch keinen Spaß.“ Mehr muss man über Fitsein und Spaßhaben nicht wissen.