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Archiv-Artikel

Verfassung am 9. Mai?

Die Europarlamentarier wollen, dass die Verfassung nicht erst im Juni fertig wird

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Trotz winterlicher Temperaturen herrschte Aufbruchstimmung beim Frühjahrsgipfel in Brüssel. Ein gemeinsamer Feind stärkt ja bekanntlich das Zusammengehörigkeitsgefühl – und so schienen die meisten Regierungschefs mit einem Gefühl trotziger Fröhlichkeit unter dem Motto „Jetzt erst recht!“ in die EU-Hauptstadt gekommen zu sein.

Schon am Donnerstagabend, wenige Stunden nach Beginn des Treffens, lag eine achtzehnseitige Erklärung zum Kampf gegen den Terrorismus fertig auf dem Tisch. Beim Abendessen wurde deutlich, dass der zu Hause politisch angeschlagene polnische Premier Leszek Miller (siehe Seite 6) seinen Widerstand gegen den Verfassungskompromiss aufgeben würde. „Ein Kompromiss ist keine Kapitulation“, erklärte der polnische Regierungs-chef, der das vor den Terroranschlägen in Madrid noch ganz anders beurteilt hatte. „Spätestens beim Europäischen Rat im Juni“, so heißt es in der Schlusserklärung, sollte eine Einigung über den Verfassungsvertrag erreicht werden. Die meisten Europaparlamentarier wünschen sich früheres Datum, um den jetzt gewonnen Schwung zu nutzen und den Wählern ein positives Signal für die Europawahl am 13. Juni zu geben. Den Europatag am 9. Mai hielt Parlamentspräsident Pat Cox für den angemessenen Rahmen, um einen Sondergipfel zur Verfassung abzuhalten.

Genauso zügig einigten sich die fünfundzwanzig Staats- und Regierungschefs gestern Vormittag darauf, wie sie den „Lissabon-Herausforderungen“ begegnen wollen. Damit ist das vor vier Jahren auf dem EU-Gipfel in Lissabon erklärte Ziel gemeint, Europa bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Erde zu machen. Traditionell ist der Frühjahrsgipfel der EuropäischenUnion hauptsächlich diesem Thema gewidmet.

Betrachtet man die Absichtskataloge für beide Politikbereiche – Kampf gegen den Terror und Kampf gegen wirtschaftlichen Niedergang – genauer, sind verblüffend viele Gemeinsamkeiten zu erkennen. Eine hochrangige Expertengruppe unter Leitung des Niederländers Wim Kok soll die Wettbewerbssituation in den Mitgliedsstaaten analysieren und der EU-Kommission bis zum 1. November einen Bericht vorlegen. Darin sollen Wachstumshemmnisse in den einzelnen Ländern herausgefiltert werden. Ferner betonen die Regierungschefs in der Abschlusserklärung des Gipfels, dass schon viel gewonnen wäre, wenn jedes Land endlich umsetzen würde, was auf europäischer Ebene zur Wirtschaftsförderung bislang beschlossen wurde.

Ähnlich sieht es bei der Terrorismusbekämpfung aus. Auch hier soll ein Niederländer die Informationen zusammenführen und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten fördern. Der ehemalige liberale EU-Abgeordnete Gijs de Vries soll seine Arbeit schon am Montag aufnehmen, allerdings wird er nicht der Kommission zuarbeiten, sondern im Ratssekretariat angesiedelt sein. „Er bringt die Voraussetzungen und die nötige Erfahrung mit“, lobte Javier Solana, der außenpolitische Vertreter des Rats, seinen neuen Mitarbeiter.

Ansonsten erinnerten die Staatschefs sich noch einmal gegenseitig an die guten Vorsätze, die sie beim Rat am 21. September 2001 unter dem Eindruck der Anschläge auf das World Trade Center gefasst hatten: Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ist bis heute von fünf Mitgliedsstaaten nicht umgesetzt. Auch bei der Zusammenarbeit der Justizbehörden im Rahmen von Eurojust hapert es; in Deutschland hängen beide Gesetze im Bundesrat fest. Bis Juni diesen Jahres, so fordert der Gipfelbeschluss, sollen diese Maßnahmen ebenso umgesetzt sein wie der Rahmenbeschluss über gemeinsame Ermittlungsgruppen, über Geldwäsche, die Beschlagnahme von Erträgen aus Straftaten und das Einfrieren von Konten.

Zusätzlich zu diesen mehr als zwei Jahre alten und bisher nicht in die Realität überführten Beschlüssen soll der Informationsaustausch über terroristische Straftaten verbessert und die grenzüberschreitende Strafverfolgung erleichtert sowie ein europäisches Register für Vorstrafen allen Mitgliedsstaaten zugänglich gemacht werden. Der 11. März wird zum Europäischen Gedenktag für die Opfer des Terrorismus erklärt.

Die politische Schizophrenie, die Politiker beim Wechsel zwischen europäischen Terminen und nationalem Tagesgeschäft ausbilden, ist damit nicht aus der Welt. Sie führt dazu, dass die gleichen Akteure, die in Brüssel überlebenswichtige Beschlüsse fassen, wenig später zu Hause in ihren Hauptstädten diese Beschlüsse wieder blockieren.