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Archiv-Artikel

Die Stimmen von Rabat

Nach den Anschlägen von Casablanca gilt in Marokko die Devise: Das Leben geht weiter. Das Musikfestival „Mawâzine“ in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, profiliert als arabische Kulturstadt des Jahres, ging fast ohne Änderungen über die Bühne

von DANIEL BAX

Es ist schon etwas merkwürdig, ins Flugzeug nach Marokko zu steigen, wenn man am Vortag im Fernsehen oder erst morgens in der Abflughalle auf einem Monitor die Bilder vom Anschlag in Casablanca gesehen hat: die zerbombten Räume des spanischen Kulturinstituts, den weinenden Zeugen der Explosion, die besorgte Rede des marokkanischen Ministers. So ähnlich muss es auch den Managern des brasilianischen Superstars Carlinhos Brown sowie des kubanischen „Oldies but Goldies“ Ibrahim Ferrer gegangen sein, die ihren Schützlingen kurzerhand abrieten, die Reise nach Rabat anzutreten. Dorthin waren sie zum Musikfestival „Mawâzine“ eingeladen, das just am Abend des Attentats beginnen sollte.

So stand das Festival in der marokkanischen Hauptstadt auf einmal ohne zwei seiner Headliner da, die schon auf großen Anzeigentafeln in der Stadt angekündigt worden waren. Dennoch entschieden sich die Organisatoren, das Programm ansonsten fast ohne Änderungen über die Bühne zu bringen, ganz nach der Devise: Das Leben geht weiter. Und getreu dem Motto, das die Tageszeitung Le Matin am Tag nach den Anschlägen auf ihrer Titelseite ausgegeben hatte: „Marokko widersteht dem internationalen Terrorismus.“ Denn für die meisten Marokkaner scheint festzustehen, dass die Anschläge mit ihnen selbst nicht viel zu tun haben, sondern im Kontext größerer Auseinandersetzungen zu sehen sind.

Das Weltmusikfestival „Mawâzine“ dagegen, das in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfand, möchte auf ganz andere globale Zusammenhänge verweisen. Indem es vor allem Musiker aus Lateinamerika und Afrika präsentiert, will es die Querverbindungen zwischen den Kontinenten aufzeigen. Manche der geladenen Künstler schlugen jedoch von sich aus den Bogen zur aktuellen Politik: So etwa Baaba Maal, ein Volksheld aus dem Senegal, der am Dienstag zum Auftakt seiner Show etwas pathetisch mit einer marokkanischen Fahne auf die große Open-Air-Bühne im Stadtpark trat. Und auch der Salsero Yuri Buenaventura, der zwei Tage zuvor am gleichen Ort mit zwölfköpfigem Orchester gleichfalls vor mehreren tausend Menschen aufspielte, suchte die Gemeinsamkeit: Kolumbien sei ein Land, das den Terrorismus kenne, betonte er, und: „Unsere Musik stammt aus Afrika. Unsere Rhythmen wurden von Sklaven nach Südamerika gebracht.“ Später zitierte er den Dichter Pablo Neruda, um sein Stück „Mi America“ anzukündigen, und schickte voraus: „Mein Amerika, das ist Brasilien, Peru, Mexiko, Venezuela. Nicht nur die USA.“ So viel guter Willen zum Schulterschluss wurde vom Publikum natürlich freundlich honoriert: ein großer Moment für die kolumbianisch-marokkanische Freundschaft!

Mit dem Weltmusikfestival „Mawâzine“ – der Name steht für die Diversität der Rhythmen – will Rabat, derzeit „arabische Kulturstadt des Jahres“, sein kulturelles Profils schärfen: Die marokkanische Kapitale mit ihren Ministerien und ihrer gutbürgerlichen Beamtenschaft steht im Rest des Landes im Ruf, eher langweilig und dröge, wenn nicht gar snobistisch zu sein. Abdeljalil Lahjomri, der Leiter des Festivals, macht keinen Hehl daraus, das man mit „Mawâzine“ im Wettbewerb der Städte ein paar Punkte gutmachen will. Dazu muss man wissen, dass die einstige Königsstadt Fès sowie das Atlantikstädtchen Essaouira mit seinem Festival für traditionelle Gnawa-Musik bereits musikalisch ebenbürtige touristische Attraktionen besitzen. Dort bleiben Marokko-Reisende im Schnitt mehrere Tage, während sie durch Rabat meist nur kurz durch die Gassen der Medina rauschen und das Mausouleum Mohammeds V. besichtigen, so Lahjomri. Spätestens seit dem Buena Vista Social Club weiß man ja, welchen tourismusfördernden Effekt Musik haben kann. In Marokko hat man das erkannt und in Rabat einige der schönsten Orte der Stadt für das Festival „Mawâzine“ bereit gestellt: Das moderne Stadttheater Mohammed V., das alte Kaufmannshaus Dar Mrini, das nun als Kulturzentrum fungiert, sowie die grandiose Naturkulisse des Kastells Chellah, eine archäologische Ausgrabungsstätte.

Dennoch dient das Festival nicht allein dazu, auswärtige Besucher zu locken. Von den Gratiskonzerten profitieren in erster Linie die Einwohner der Stadt, die sonst wenig vergleichbare Abwechslung für sie bereit hält. Mit dem jährlichen „Mawâzine“-Festival hat der junge König Mohammed VI., unter dessen Schirmherrschaft das privat finanzierte Festival läuft, den Bürgern seiner Hauptstadt ein Stück Weltoffenheit verschrieben. Das Programm bürgt für Internationalität, wenn auch jenseits des angloamerikanischen Pop-Mainstreams.

Einheimischen Musikern bietet das Festival die Möglichkeit, sich mit dem Rest der Welt auf Augenhöhe zu zeigen. Bands wie Rai X oder Kasbah, die beide von Marokkanern im Ausland gegründet wurden: Rai X um Samir Essahbi etwa stammen aus Bern und bestehen zur Hälfte aus Schweizern. Als die Band mit arabischem Reggae und Salsa auf einer kleinen Bühne im Stadtpark aufspielt, hat sie großen Zulauf: Familien mit kleinen Kindern und viele, überwiegend männliche Jugendliche.

Erst nach einer Stunde, als bereits Kasbah spielen, schwindet die Schwellenangst, und das Publikum rückt näher. Die Bigband aus Holland kombiniert rockigen Funk mit Elementen der marokkanischen Gnawa-Musik: Der Trance-Musik jener Sufi-Bruderschaften, die von einstigen Sklaven aus dem Sudan abstammen. Die sieben Marokkaner und drei Holländer, die zuvor in einer Hardrockband spielten, sind sich zufällig an einer Tankstelle begegnet. „Das Schicksal hat uns zusammengeführt“, grinst Sami Ghousli, der Sänger mit dem Piratenstirnband, der am nächsten Morgen Interviews gibt. Seinen Stil nennt er Gnawa-Rai und betont dessen spirituelle Herkunft.

Das macht auch Said Chrabi, ein vielfach preisgekrönter Meister der arabischen Laute. Die Kompositionen des 40-Jährigen stehen in der Tradition der „musique andalouse“, die einst, zur Blütezeit der arabischen Reiche, aus der Synthese maurischer bis persischer Einflüsse hervorging. Zum Konzert seines Ensembles im prunkvollen Patio des Dar Mrini erschienen die gesamten Notabeln der Stadt: Konzentriert lauschen sie der klassischen Darbietung. Auch Said Chraibi betont die Sufi-Wurzeln seiner Musik, schwört auf deren beruhigende, ja medizinische Wirkung: Sie werde von führenden Anästhesisten empfohlen!

Abgesehen von den vielen arabischen Gruppen, die den speziellen Geschmack ausmachen, ist das „Mawâzine“ jedoch ein Festival, das so oder so ähnlich heute inzwischen überall auf der Welt stattfinden könnte – in einer beliebigen Metropole von Brasilien bis Japan, auf einer entlegenen Pazifikinsel oder im malaiischen Regenwald: Ein Indiz für die fortschreitende Globalisierung der Weltmusik. Das ist beileibe nicht so tautologisch, wie es klingt. Denn Weltmusik ist im Grunde ein westliches Konzept, das einst dazu diente, die musikalischen Stile der Peripherie in die Zentren der westlichen Welt zu tragen. Inzwischen aber ist das, was man Weltmusik nennt, zum Konsenssound eines weltweiten Bildungsbürgertums geworden. Auch in Marokko.

Der globale Siegeszug der Weltmusik hat aber auch merkwürdige Paradoxien befördert: Während viele afrikanische Stars heute rund um den Globus Konzerte geben, haben Auftritte auf dem eigenen Kontinent, zumindest außerhalb des eigenen Landes, fast Seltenheitswert. Es blieb Baaba Maal vorbehalten, bei seinem Auftritt auf diese Besonderheit des „Mawâzine“-Festivals hinzuweisen, bei dem in diesem Jahr einige große Namen der afrikanischen Musik im Vordergrund standen: neben Baaba Maal selbst, dessen Auftritt mit Heavy Percussion, bratzenden Gitarren und ohrenbetäubender Lautstärke ein Hauch von „Monsters of Rock“ anhaftete, etwa der Albino-Sänger Salif Keita aus Mali, ein weiterer Star von der anderen Seite der Sahara.

Daneben waren aber auch ein paar regelrechte Dinosaurier geladen: Der 75-jährige Fatai, ein Veteran des nigerianischen Highlife. Oder der 78-jährige Wendo Kolosoy, ein Mitbegründer der kongolesischen Rumba, dessen Song „Marie Louise“ ihn in den späten Vierzigern in ganz Westafrika bekannt gemacht hatte. Als ein Journalist morgens von seinem Hotel aus aufbricht, um dieses Urgestein der afrikanischen Musik zu interviewen, scherzen die anderen Journalisten, die im Hotel zurückbleiben: „Frag ihn mal, wer Marie Louise ist! Wir möchten das schon seit vierzig Jahren wissen!“

Zum Rahmenprogramm des Musikfestivals gehörten auch mehrere Vernissagen von bildenden Künstlern. Am Rande der Konzerte wurde in einer kleinen, lichten Galerie im Stadtzentrum eine Ausstellung mit Arbeiten aus Mosambik eröffnet. Auf den ersten Blick wirkten die Skulpturen, die sich über den Raum verteilten, wie harmloses Kunsthandwerk: Figuren wie ein Gitarrist, das passende Motiv zum Musikfestival, ein Reptil oder ein Metallvogel sehen aus wie aus einfachen Drahtgestellen zusammengeschweißt. Erst auf den zweiten Blick entpuppten sich die dekorativen Figuren als aus Überresten von Handfeuerwaffen zusammengesetzt: Pistolengriffe bilden den Kopf, Gewehrläufe die Beine der Figuren: Zwar nicht Schwerter zu Pflugscharen, aber doch immerhin rostige Kalaschnikows zu Standbildern. Für den Betrachter stellte sich der Bezug zu den Ereignissen von Casablanca unweigerlich her. Doch der war bei der Planung beileibe nicht abzusehen.