: Vom aufspürenden Blick
Der letzte Montag eines Monats ist der „Goettle-Tag“. Übermorgen also. Dann erscheint die nächste literarische Reportage von Gabriele Goettle. Und sie schreibt nur für die taz – seit fast 15 Jahren
von DIRK KNIPPHALS
Wirklich gute Reportagen und Porträts kann man nie, niemals auf ihr Thema oder ihren Gegenstand reduzieren. Sie leben von ihren Beobachtungen und von ihrem Eigensinn. Diese journalistischen Klippschullehren abgetan, bitte ich Sie nun um einen kleinen Moment der Aufmerksamkeit für ein längeres Zitat.
Als Gabriele Goettle auf Ivan Illich, den großen Kulturkritiker, trifft, passiert nämlich Folgendes: „Schon ist er die Treppe hinunter. Ich eile hinterher, erreiche ihn im Foyer und stelle mich vor, hoffend, dass er meinen Brief erhalten hat. Er verabschiedet sich sehr förmlich von einer Dame und ergreift mit dem Ausruf: ,Sie habe ich schon gesucht!‘ meine Hand. Er wirkt sehr nervös. Plötzlich zieht er mich unvermittelt mit sich fort Richtung Garderobe in einen abseits gelegenen, anscheinend unbenutzten düsteren Raum. Schweigend weist er auf einen Stuhl, setzt sich neben mich, öffnet seine Aktentasche, holt eine Kerze hervor, ein Stück Aluminiumfolie, zündet die Kerze an und bittet mich, sie zu halten, was ich irritiert tue. Nun legt er ein dunkles Kügelchen aufs Stanniol, hält beides über die Kerzenflamme und inhaliert dann mit einem Röhrchen den sich entwickelnden hellen Rauch ein. Sein Gesichtsausdruck wirkt verschlossen und aufs Höchste angespannt. Das Kügelchen schmilzt, gleitet und hinterlässt auf dem Stanniol eine schmale, schwarze Brandspur. Plötzlich lässt mein Gegenüber alles sinken, rutscht vornüber vom Stuhl, bricht vor mir ins Knie mit enormer Geschwindigkeit, krümmt sich tonlos zusammen und bleibt dann einen Moment lang in dieser Position. Ich halte derweil, weil ein wenig zerrüttet, aber nicht wirklich beunruhigt, brav die brennende Kerze. Es schwebt ein Geruch nach Harz und Terpentin, Weihrauch und Myrrhe in der Luft.“
Was für eine Szene! Man soll sich nicht selbst loben, aber ein bisschen angeben kann man mit so einer Autorin wie Gabriele Goettle schon. Dieser schöne Absatz stand jedenfalls am 30. Juli 2001 in der taz, und zwar in einem Porträt über (den im Dezember 2002 gestorbenen) Ivan Illich, das Gabriele Goettle in ihrer Serie über Experten geschrieben hat. Illich raucht übrigens Opium, um die Schmerzen, die ihm sein Krebs verursacht, im Griff zu halten. Und nach dieser etwas hektischen ersten Begegnung entwickelt sich ein sorgfältiges Gespräch über Krebs und Schulmedizin, Schmerz und Opiumrauchen, die Bedürftigkeit des Menschen und die Lebenskunst – keinem, der diesen Text las und den Namen Illich hört, wird es möglich sein, nicht sofort an dieses Porträt zu denken.
Gabriele Goettles Metier wird gern mit dem Begriff „literarische Reportage“ umschrieben. Ihre Zusammenarbeit mit der taz währt nun schon fast 15 Jahre: „Postwurf. Sendungen für die Lebenden und Toten“ datiert vom 27. Juni 1988. Der jeweils letzte Montag eines Monats heißt innerhalb der Redaktion nur „Goettle-Tag“. Dann erscheinen ihre Reportagen und Porträts auf den Kulturseiten dieser Zeitung, stets versehen mit Aufnahmen der Fotografin Elisabeth Kmölniger. In ihrer Expertenreihe hat Gabriele Goettle unter anderen auch eine Prostituierte, den Direktor der Wiener Wasserversorgung, den Fachmann der Rohrpostanlage der Berliner Charité, den Psychiater Klaus Dörner, einen freundlichen Astrophysiker, einen Parasitologen und viele Experten mehr porträtiert. In der vorangegangenen Reportagenreihe schrieb sie über die Gebräuche in einer Berliner Suppenküche für Arme, davor über Ost-West-Befindlichkeiten. Alle drei Jahre erscheinen die Artikel gesammelt als Buch in der Reihe Andere Bibliothek im Eichborn-Verlag, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, der neulich als Ausdruck seiner Bewunderung das Preisgeld des Ludwig-Börne-Preises an Gabriele Goettle weiterreichte. Alle Angebote, für andere, besser zahlende Zeitungen zu schreiben, hat Gabriele Goettle stets abgelehnt.
Tja, und über Ivan Illich hatte sie noch Folgendes geschrieben: „Ivan Illich ist ein sehr guter Spürhund, der, wenn er mal die Spur aufgenommen hat, sie aufmerksam bis zu ihrem Ausgangspunkt zurückverfolgt. Diese ganz spezielle Art des aufspürenden Blickes, verbunden mit lebhafter Vorstellungskraft, ist ganz typisch für Ivan Illich.“ Man sieht nur, was man kennt. So kommt es, dass sich jeder Autor, jede Autorin in einem Porträt auch ein Stück weit selbst porträtiert. Diese Sätze jedenfalls gelten ein Stück weit auch für Gabriele Goettle.
Übermorgen wird ihr nächster Text in der taz stehen. Schauen Sie mal rein. Und danke für die Aufmerksamkeit.