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Archiv-Artikel

ulrike winkelmann über Golf Frühlingsgefühle

Die Wirtschaft darbt, die Motte frisst, und der Hammer lärmt dazu

Meine größte Feindin ist zur Zeit die Miniermotte. Die Miniermotte ist das Tier, das die Kastanien versaut. Sie hat sich in den vergangenen Jahren vom Balkan Richtung Nordwest vorwärtsgefuttert, hat erst die Münchner Biergarten-Kastanien, im vergangenen Sommer dann die Hamburger und Berliner Kastanienalleen ruiniert. Die Lokalzeitungen haben davon berichtet: Die Blätter werden erst fleckig, dann gelb, fallen viel zu früh ab, und im Laub überwintert das Mistvieh dann.

Jeden Morgen beim Frühstück starren meine Mitbewohnerin und ich bang auf den Kastanienbaum vorm Küchenfenster. „Siehst du schon was?“ – „Nein, aber ich finde, er blüht dieses Jahr irgendwie zaghafter als letztes Jahr.“ – „Und die Flecken auf den Blättern, so hell-weißlich, meinst du, das sind nur Kalkflecken?“ Regen macht keine Kalkflecken. Vielleicht ist sie das schon, die Motte.

Cameraria ohridella, wir hassen dich. Der Milchkaffee schmeckt nicht mehr vor Sorge darüber, wann deine gierigen Larven sich durch die Kastanienblätter gefressen haben. Missmutig greife ich nach meiner Tasche. Die Zeitungen kann ich auch in der Redaktion lesen. Da ist wenigstens eine Baustelle vorm Fenster.

Ich weiß auch nicht, warum das letzte bisschen deutsche Bauindustrie ausgerechnet neben meinem Arbeitsplatz stattfinden muss. Wie sollen wir an den Untergang Deutschlands glauben, wenn wir monatelang in einer Baustaub- und Lärmglocke sitzen, die doch immerhin von Betriebsamkeit und Produktivität zeugt – auch wenn sie uns beides raubt? Allerdings, sagt meine Kollegin, handelt es sich bei der Riesenbaustelle angeblich um den Erweiterungsbau des Arbeitsamts. Das schränkt die Freude über diesen Lebendigkeitsbeweis der Wirtschaft natürlich ein wenig ein.

Wobei weder in meinem Kollegen- noch im Freundeskreis derzeit darüber Einigkeit herrscht, ob und wie schnell Deutschland gerade untergeht. Deutlich sind gewisse Abwehrerscheinungen gegenüber dem Leitartikelwesen zu verspüren. „Wenn ich noch einmal einen Satz mit den Formulierungen ,wirtschaftliches Schlusslicht‘, ,Reformblockade‘ und ,Stillstand der Republik‘ lesen muss, trete ich einer Sekte bei!“, rief mein sensibler Freund Clemens kürzlich.

Da es mir mit den Begriffen „schleudernde“, wahlweise „betonierte“ oder auch „gelähmte“ Industrienation, vor allem aber mit den Worten „Republik am Abgrund“ ähnlich geht, beschlossen wir, Gründe gegen den Untergang Deutschlands zu sammeln.

Erstens gibt es immer noch ausgesprochen viele Leitartikelschreiber mit 14 Monatsgehältern, die dazu noch die Muße haben, sich wöchentlich neues Untergangsvokabular aus dem Archiv besorgen zu lassen – auch die „geistig-moralische Wende“ (nötig beziehungsweise kommend) lachte mich neulich wieder von einer Titelseite an. Zweitens könnte man doch zur Abwechslung mal behaupten, die Regierung habe Witz und Verstand und mache das Beste aus ihrem Handlungsspielraum. Wieso nicht? Ok, mir fällt jetzt auch nichts Konkretes ein. Müsste man die Pressemitteilungen der letzten Wochen noch einmal durchschauen.

Drittens aber hat es doch auch was für sich, wenn die ganzen arbeitslosen Spitzentalente um die 30 in die USA gehen. Dort machen sie einen guten Eindruck und überzeugen so wenigstens das Ausland, dass die deutschen Schulen und Hochschulen noch etwas taugen. Viertens sind wir neulich durch süddeutsche Ortschaften gefahren, in denen ausschließlich BMWs vor Doppelgaragen standen. Die Straßen waren rot angemalt und die Straßenränder mit Blumen gesäumt, die anderen Leuten zu teuer sind für ihre Balkonkästen. Fünftens macht die Bahn ihre Preisreform wieder rückgängig. Sechstens habe ich meinen kleinen Cousin zu seiner Konfirmation am vergangenen Sonntag erstmals in einer Hose gesehen, deren Schritt nicht zwischen den Kniekehlen baumelte. Gut, meinetwegen, das zählt nicht.

Das Gefühl von Untergang oder Aufstieg, so stellte sich bei dieser kleinen Analysearbeit bald heraus, hängt von einer Reihe miteinander verbundener Faktoren ab: Was trägt die Verwandtschaft bei Familienfesten? Hat man bereits ein Bahnticket mit der neuen Bahncard erwerben müssen? War man in jüngerer Zeit im Süddeutschen? Arbeitet man noch für Geld, und wenn ja, in welcher Entfernung zur nächsten Baustelle?

Der Presslufthammer draußen vorm Fenster dröhnt, ihm in den Takt fällt ein rhythmisch aufheulender Bohrer. Wir können die Fenster nicht öffnen, weil wir uns sonst nicht mehr verständigen könnten. Ich finde, die Wirtschaft boomt. Schließlich wird auch in einem Arbeitsamt gearbeitet, wenn es denn fertig gebaut ist. Und plötzlich wird mir auch klar, woran die Leitartikelschreiber leiden müssen. Im Gegensatz zu mir haben sie Kastanien vorm Redaktionsfenster. Und sie haben die ersten Flecken auf den Kastanienblättern gesehen.

Fragen zu Motten?kolumne@taz.de