: Kalle Kinkels Wildtierporno
Wahrheit-Reporter fast vor Ort: Ein Tag mit der Hellenthaler Wildschweine-Livekamera
BERLIN taz ■ Das Hellenthaler Wildgehege, was wäre die Welt nur ohne das Tierparadies? 1998, ist verzeichnet, unternahm hier Bundesaußenminister Klaus Kinkel gemeinsam mit ein paar großen deutschen Journalisten einen seiner legendären „Vatertagsspaziergänge“, einen riesigen Bollerwagen voll Trollinger hinter sich her ziehend. Dann hörte man lange nichts mehr aus der Eifel. Nach jahrelanger Untätigkeit haben sich die Hellenthaler jedoch nun mit einem weitaus beeindruckenderen Schauspiel zurückgemeldet: mit einer Rotte Wildschweine. Und einer Kamera, die sie filmt. 24 Stunden, jeden Tag. Sie nennen es „Pig Brother“, die spannende Wildtiershow im Internet, bei der alles möglich ist (www.wildtiere-live.de). Jeder, der will, kann „dabei sein, wenn’s passiert.“
Schon über 537.000 Menschen haben es sich in den ersten vier Tagen angeschaut. Hoffend auf animalisch grunzende Männchen, die sich bis aufs Blut keilen. Auf ständig willige Weibchen mit so vielen Zitzen, wie man sie in Deutschland noch nicht gesehen hat. Alle nackt. Zum Poppen bereit. Deutschlands erster ganz legaler Tierporno.
Um 12.30 Uhr gibt es erste Bewegung im Gehege. Ein Tannenzweig wackelt im kühlen Spätwinterwind. Auf dem Boden zeichnen sich die warmen Strahlen der Mittagssonne ab. Ein Hund bellt. Ein Spatz fliegt ins Bild. Wühlt am Boden nach Nahrung. Es raschelt. Der Spatz fliegt wieder aus dem Bild. Es ist still.
Wir warten auf Kalle. Kalle (5) ist der Star unter den exhibitionistisch veranlagten Schweinen, sagen die Produzenten. Er, der Rottenführer, liefert sich ständig brutale Kämpfe mit den anderen Männchen, sagen die Produzenten. Und hat, sagen die Produzenten, besonders häufig richtig ungeschönt schmutzigen Sex. Wenn Kalle im Bild ist, heißt das Action. Ein Mann taucht im Hintergrund auf. Er trägt eine blaue Jacke und schaut über den Zaun in das Gehege. Die Kamera zoomt auf sein Gesicht. Es ist nicht Klaus Kinkel. Wir haben 12.51 Uhr. Um 13.40 Uhr landen mehrere Schwalben im Gehege. Sie fliegen wieder fort. Nach einer weiteren Stunde schwenkt die Kamera auf den Verschlag der Wildschweine. Er ist leer. Kalle ist auch nicht da. Eine Stimme ertönt, verzerrt und Kilometer entfernt. Wahrscheinlich der Stadionsprecher des Hellenthaler Fußballvereins. Fußball hat nur bedingt mit Wildschweinen zu tun. Wir ignorieren die Stimme.
Dann plötzlich: Bewegung! Ein Schwein, ein echtes Wildschwein. Es könnte Kalle sein, der Star, der Galaktische. Das Schwein frisst. Die Kamera geht näher ran. Das Schwein hat Zitzen. Kalle hat keine Zitzen. Es ist Sofie (2). Sie ist die Jüngste im Gehege. Aber sie weiß sich durchzusetzen. Auf der Webseite lesen wir: „Ihre Zitzen schmerzen ständig.“ Huiuiui, was ein Luder. Wenn sie am Start ist, dann knistert es gewaltig.
Eigentlich raschelt es mehr. Sofie wühlt sich mit ihrem Rüssel durch das Laub am Boden. Es ist 15.52 Uhr, und Sofie frisst. Sie geht ein Stück voran. Ihr Kopf verschwindet hinter einem Baum. Sie geht weiter. Sie ist ganz weg. Nach einer Minute erscheint Sofie wieder. Ein zweites Schwein kommt ins Bild. Das ist Berta. Auch sie frisst. Luise kommt dazu und frisst ebenfalls. Luise stupst Sofie leicht an. Sofie grunzt. Sofie geht aus dem Bild. Die verbliebenen Schweine fressen weiter. Und dann, auf einmal ist er da:
15.59 Uhr. Kalle schleicht ins Bild. Es passiert und wir sind live dabei. Er, der Majestätische, senkt seinen Kopf und wedelt mit dem Schwänzchen. Er wird doch nicht …?
Kalle steckt seinen Rüssel in die Tannenzweige am Boden. Kalle frisst. Macht einen Schritt nach vorn. Frisst weiter. Dann stößt er mit seinem Rüssel einen hellgrauen Ast am Boden an. Der Ast rollt zehn Zentimeter zur Seite. Der Wutausbruch des Tages. Kalle frisst weiter. Mehrere kleine Wildschweinchen kommen angelaufen. Sieben hängen sich an die Zitzen von Luise, dem Mutterschwein. Sie nuckeln. Es ist 16.31 Uhr. Sie nuckeln. Es ist 17.20 Uhr. Kalle ist weg. Die Schweinchen nuckeln noch immer. Ab 18.05 Uhr nuckeln sie in Großaufnahme. Um 19.30 Uhr sieht man nichts mehr nuckeln. Es ist schon zu dunkel. Was für ein spannender Tag bei „Pig Brother“.
Vielleicht reicht den Veranstaltern die Zuschauerzahl bald nicht mehr. Und sie, die Männer und Frauen vom Deutschen Jagdschutzverband (DJV), erbarmen sich und spendieren eine Runde Fangschüsse für die ganze Horde. Der Spannung wegen. Und um zu sehen, ob Kalle nicht doch die Rolle als Ragout besser liegt. Aber vielleicht ist es auch gut so, wie es jetzt ist. So friedlich. So harmonisch.
Es ist 19.48 Uhr und ruhig in Hellenthal. Ein Quieken ertönt. Wahrscheinlich ist Kalle gerade der Waschlappen vom Haken gefallen.
BERNHARD HÜBNER