Die Orientierung verloren

3500 Gewerkschafter demonstrieren in Hamburg gegen die Agenda 2010 von Bundeskanzler Schröder. Herbe Abrechnung mit der rot-grünen Regierungspolitik. Gewerkschaften gestehen Fehler ein, zu lange zu Rot-Grün gehalten zu haben

von KAI VON APPEN

Der Auftritt der IG Metall-Jugend war interpretierbar, wenngleich eindrucksvoll. Eine völlig zerbeulte Karosse, aus der gerade noch ein paar Menschen nach einem Disco-Besuch lebend herauskriechen konnten, verbunden mit der Botschaft: „Wir wollen unsere Jugend ausleben.“ Ein Untertitel wie: Der Zustand des Sozialstaats unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, seiner Agenda 2010, der Ausbildungssituation, und sie soziale Zukunft, die keine Perspektive mehr bietet, musste selbst hinzugedacht werden. Die powervollen jungen Frauen und Männer aus Bremerhaven, Hamburg und Rostock machten Dampf. „Ihre Zukunft in der Gesellschaft ist gesichert“, habe man ihnen versprochen und dafür treten sie nun ein. Darum sind ihre Trillerpfeifen besonders laut, und die Musik eine Bereicherung, als der Zug von 3500 GewerkschafterInnen die Mönckebergstraße passiert.

3500 Teilnehmer klingt gering, wenn es um die Agenda 2010 geht. Doch es war diesmal nicht die Massenmobilisierung, die dem Protest die Kraft verleihen sollte, sondern es waren die strammen GewerkschafterInnen, die gekommen waren, um zu sagen: „Jetzt reicht‘s!“ Denn auch die Gewerkschaften müssen sich mit der neuen Lage arrangieren, dass Rot-Grün nicht mehr der Verbündete ist. Und dies ist der breiten Basis dann plötzlich doch schwer zu vermitteln. Und so ist der Aufschrei der IG Metall-Jugend nach Ausbildung und sozialer Sicherheit ein besonderes Element.

„Wir haben viel zu lange die Melodie mitgesungen“, schimpfte Margret Mönig-Raane, Vizechefin der Gewerkschaft ver.di, als sie an den sozialdemokratischen Reigen erinnert wurde, dass in Deutschland die Lohnnebenkosten zu hoch seien. „Das ist eine aufgeblasene Lüge!“ Von einer „Gerechtigkeitslücke“ redet auch DGB-Nord-Chef Peter Deutschland. „Von Symbolpolitik wird man nicht satt.“ Die Agenda 2010 sei „unsozial und menschenunwürdig“, sagt Deutschland.

IG Metall-Küste-Chef Frank Teichmüller ergänzt: „Die Zukunft einer abgenutzten Cola-Dose ist besser gesichert, als unsere.“ Teichmüller stellt die Politik Schröders grundsätzlich in Frage. Der „Talk-Show Krieg“ und die „medialen Schlachten“ spiegelten die Realität nicht wider: „Eine Durchschnitts-Frau bekommt 496 Euro als Rente, ein Durchschnittsmann 645 Euro“ rechnet Teichmüller vor. „Und wenn ein Manager ein Unternehmen an dieWand fährt, bekommt er 80 Millionen Abfindung. Das ist die Realität.“

Teichmüller traut Rot-Grün nichts mehr zu. „Wir werden schlecht regiert“, schimpft er. „Die soziale Marktwirtschaft ist zu einem Selbstbereicherungsladen der Reichen geworden.“ Schröder lasse sich mittlerweile von den gleichen Sachverständigen beraten wie zuvor CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl, um Sozialabbau als Reformen zu verkaufen. „Und als er die Orientierung verloren hat, verdoppelte er die Geschwindigkeit.“