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Archiv-Artikel

Normalzeit HELMUT HÖGE über den bösen Blick

„Der malocchio (ital.) ist ein Begriff für den sogenannten Schadenszauber“ (Wikipedia)

Theodor W. Adorno riet seinen Frankfurter Studenten, den „bösen Blick“ zu entwickeln. Helmut Reichelt schreibt, sie sollten sich damit „für die Erfahrung von Gesellschaft sensibilisieren“ und dann das Erfahrene theoretisch verarbeiten wie umgekehrt die Sensibilität für Erfahrung durch Aneignung kritischer Theorie schärfen. Nur so könne man dem Positivismus entkommen!

Der Schweizer Ethnologe David Signer hat diese Zauber-Praktik in Ostafrika studiert – sein Buch heißt „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“. Für Signer sind die magischen Praktiken kein psychologisches, sondern ein soziologisches Phänomen.

Wenn Frantz Fanon von einem „magischen Überbau“ sprach, dann könnte man nun mit David Signer von einem „magischen Unterbau“ reden. Er lernte in Ostafrika Medizinmänner und -frauen kennen, die Fetische herstellen, um Angreifer und Gewehrkugeln abzuwehren; die zudem Mittel zur Verwandlung in Bäume und Antilopen herstellen; die Menschen den Mund verschließen und sie sogar mit Blicken und Worten töten können. Der Traum jedes Adorno-Schülers?

Der böse Blick ist der einzig produktive, deswegen schärfte Adorno seinen Studenten ein, ihn ja nicht zu vergessen. Anders sei unsere warenproduzierende Gesellschaft nämlich nicht zu begreifen. Zwar schwor Marx sich, dass die Bourgeoisie ihm seine Furunkel am Arsch, die er sich während der Abfassung seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ zugezogen hatte, noch teuer bezahlen werde. Aber eigentlich ist der böse Blick oder das tödliche Wort in einer Gesellschaft, die einzig durch das Wertgesetz zusammengehalten wird, wirkungslos geworden.

In Gesellschaften, die dagegen noch auf dem Gabentausch bestehen, hilft der böse Blick enorm. Der Gabentausch basiert auf Reziprozität, das heißt auf Gegenseitigkeit, die nicht unbedingt prompt erfüllt werden muss. So dürfen Kinder billigerweise erwarten, von ihren Eltern versorgt zu werden, und die umgekehrt dasselbe dann im Alter von ihren Kindern. Im Geltungsbereich des Wertgesetzes hingegen wird jede „Versorgung“ käuflich. Und das muss sie auch, denn wir sind alle „Privatarbeiter“ geworden, egal ob bei Osram am Fließband, im Labor oder in der „Intelligenzagentur“ am Laptop.

Und unsere Gesellschaft stellt sich erst über den Tauschzusammenhang her – über ihre Arbeitswerte, die quasi rückwirkend alle produktiven Tätigkeiten zu „abstrakter Arbeit“ herabwürdigen. Wohl sieht man – in der U-Bahn zum Beispiel – noch jede Menge Leute (Baaliner), die den „bösen Blick“ praktizieren und es dabei bis zu kleinen Mörderaugen gebracht haben. Aber das ist sozusagen präadornitisch – und damit eher bedauernswert als zum Fürchten.

Das heißt aber nicht, dass die Magie auf den afrikanischen Kontinent oder den Gabentausch reduziert ist – im Gegenteil, auch hier ist sie die Basis der Ökonomie. Die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft misst der „Psychologie“, der „Stimmung“ (an der Börse zum Beispiel) die allergrößte Bedeutung zu. Daneben existiert hier ebenso noch der Gabentausch. Er nimmt sogar zu. Andauernd versucht man, jemanden zu einer Gegengabe zu verpflichten. In den Tauschringen ist dies quasi obligatorisch. Dabei geht es um Reziprozität und nicht um Äquivalente (Gegenwerte), die getauscht werden.

André Gorz begriff diese und ähnliche Selbstorganisationen bereits als Alternative zur übrigen Wirtschaftsweise. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass „die Sphäre der Gabe“ in Frankreich bereits Dreiviertel des Bruttosozialprodukts ausmache. Dazu zählten die Forscher unter anderem auch die vielen nächtlichen „Schnapsrunden“ in den Kneipen. Mit jeder neuen Runde gewinnt der „böse Blick“ an Bedeutung. Aber so weit lassen es die meisten Mittrinker gar nicht erst kommen.