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Archiv-Artikel

Teilhabe ist ungerecht

TAZ-SERIE „AGENDA 2010“, Teil 4: Schröders SPD ist die Partei der Arbeitenden und der Familien – Schwache bleiben außen vor. Hilfe ist kein Recht mehr, sondern Gnade

Jeder ist seines Glückes Schmied, Armut eigene Schuld. Das ist die Haltung des 19. Jahrhunderts

Es existiert ein neuer Begriff in der Politik. Er heißt „Teilhabe“. Zwar gab es dieses Wort schon immer, aber besonders gebräuchlich war es nicht. Jetzt taucht es plötzlich überall in der Sozialdebatte auf – und die Parteien beeilen sich, die Urheberschaft zu reklamieren. So behauptete Kanzler Schröder am Freitag in seiner Geburtstagsrede für die 140-jährige SPD: „Eigentlich müssten wir Sozialdemokraten Patentschutz auf den Begriff der ‚Teilhabe‘ anmelden.“

Nun ist das Prägen von Begriffen nie harmlos. „Wording“, wie es neudeutsch heißt, soll Wahrnehmung beeinflussen und ist ein Kampf um Herrschaft. Warum also will sich Schröder ausgerechnet die „Teilhabe“ einverleiben? Und warum platzierte er diesen neumodischen Begriff so zentral in einer Rede, die den Genossen endlich erklären sollte, wie Gerechtigkeit und die Sozialkürzungen der Agenda 2010 zusammenpassen?

Das wird lange nicht deutlich im Redetext. Und diese Verwirrung scheint gewollt zu sein. Schröders Definitionsversuch ist geradezu grotesk: Bei Teilhabe, so liest sich die Rede im Internet, sei es „ein Unterschied, ob man darunter ganz allgemein eine ‚Teilnahme‘ oder auch ‚Anteilnahme‘ versteht. Oder ob man, wie wir Sozialdemokraten, die gerechte Beteiligung meint: am Haben und am Sagen“. Diese Sätze sind seltsam verschwiemelt für eine Ansprache, die massentauglich sein sollte. Aber immerhin lässt sich ihnen entnehmen, dass Teilhabe irgendwie mit gerechter Beteiligung zu tun haben soll. Dafür jedoch gibt es eigentlich schon Begriffe: zum Beispiel Chancengleichheit oder Verteilungsgerechtigkeit. Sie aber kommen in der ganzen Rede nicht vor.

Sie wären dort auch fehlplatziert, denn diese alten Begriffe können die neue soziale Haltung nicht beschreiben, die Schröder propagiert. Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit stehen für positive Ziele, für eine Utopie. Sie formulieren einen sehr weit reichenden Anspruch des Einzelnen. Schröder hingegen definiert Gerechtigkeit in der Negation, als eine Art Untergrenze: „Oberstes Ziel einer Politik der Gerechtigkeit also ist es, zu verhindern, dass Menschen aus Arbeit und Gesellschaft ausgeschlossen werden. Aber auch nicht zuzulassen, dass sie dauerhaft von staatlicher Unterstützung abhängig werden.“ (Hervorhebungen durch die Red.) In dieser Logik ist schon ein Minimum das Maximum an Gerechtigkeit. Teilhabe ist leicht erreichbar, wenn als einziges Kriterium gilt, dass man nicht vollkommen draußen bleibt. Da reicht es dann dicke, wenn der Lohn knapp über der Sozialhilfe liegt.

Teilhabe ist Gerechtigkeit light für die Schwachen. Aber der Begriff hat den charmanten Vorteil, deutlich besser zu klingen. Denn Teilhabe erinnert nicht umsonst an den Teilhaber, an den Mitbesitzer einer Firma. Diese Assoziation macht das neue Gerechtigkeitswort so attraktiv für Schröder und so unwiderstehlich auch für die anderen Parteien. Das ist die New Economy für Langzeitarbeitslose – eine schöne neue Sprachwelt. „Teilhabe“ ist die konsequente Ergänzung zur „Ich-AG“. Beide Begriffe machen die Erwerbslosen semantisch zu Chefs, damit nicht so auffällt, dass sie real noch nicht einmal mehr richtige Untergebene sind.

Wer jedoch keinen Job mehr hat, der darf keine Ansprüche erheben in dieser Gesellschaft, die sich über Arbeit definiert. Diesen Sonderstatus der Schwachen macht Schröder sehr deutlich in seiner Rede, als er die Identität der SPD beschreibt. Sie sei eine „Volkspartei“. Eben „die Partei der Arbeit und der arbeitenden Menschen“. Und wenig später heißt es dann noch: „Wir sind die Partei der Familie.“ Dazwischen aber hängt ein Satz, der nicht so recht passen will: „Sozialdemokraten sind die Schutzmacht der Schwächeren der Gesellschaft.“

Wohlgemerkt: Die SPD ist nicht die Partei auch der Schwächeren, nein, sie ist deren Schutzmacht. Nun ist Schutzmacht ein Begriff der Diplomatie und des Völkerrechts. Das Wort bezieht sich immer auf fremde Volksgruppen oder fremde Staaten, die durch Drittstaaten oder andere Ethnien bedroht sind und vorübergehend unterstützt werden. Übersetzt bedeutet Kanzler Schröders Bild: Die Schwachen in Deutschland sind fremd; sie gehören nicht zum Volk der Volkspartei SPD. Man kümmert sich um sie aus reinem Großmut, oder auch aus klar definierten Eigeninteressen. Hilfe ist kein Recht mehr, sondern eine Gnade. Sie ist nur noch als Intervention für den Notfall gedacht.

Hilfe ist also neuerdings begrenzt. Wie Schröder schon sagte: Er will nicht zulassen, dass die Menschen „dauerhaft von staatlicher Unterstützung abhängig werden“. Das kann man als Versprechen lesen, aber auch als Drohung. Und es liegt nahe, vor allem die Drohung zu empfinden: Wehe, wenn ihr Schwachen nicht schnell selbstständig werdet. Dann seid ihr selbst schuld und verdient Hilfe nicht mehr. Denn in der Schröder-Welt könnten die Schwachen stark sein, wenn sie sich nur bemühen würden. „Schutzmacht“, so erklärt es die Rede, das „heißt in erster Linie, dass wir die Schwächeren darin stärken, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und anzuwenden – damit sie sich selbst helfen können.“

Schröder scheint zu meinen, die Schwächeren seien quasi aus Versehen schwach, als hätten sie nur zufällig das Falsche gelernt. Das geht jedoch an der Realität von fünf Millionen Arbeitslosen vollkommen vorbei. Vor allem aber: Es ignoriert den Wesenskern des Kapitalismus. Konkurrenz erzwingt rasanten Produktivitätsfortschritt. Denn nur das sichert den Vorsprung im Wettbewerb. Produktivität macht aber Arbeit überflüssig und verlangt von der Rest-Crew immer mehr an Fähigkeiten. Längst gibt es eine riesige Unterschicht der Überforderten, die niemand ernsthaft beschäftigen will. Sie werden draußen bleiben, für immer, von Ausnahmen abgesehen.

Schröder definiert Gerechtigkeit nicht als Utopie, sondern in der Negation, als eine Art Untergrenze

Man kann das Risiko vielleicht gerechter verteilen, ausgesteuert zu werden, indem etwa eine Bildungsreform dafür sorgt, dass auch Kinder ohne ambitionierte Eltern in der Schule gefördert werden. Aber keine Bildungsoffensive kann alle Menschen wieder in Vollzeitjobs bringen. Sie würde vor allem die Auswahlkritierien bei den Bewerbern verschärfen. Selbst wenn die meisten sehr gut sind, werden nur die Besten gebraucht. Man wird für viele sorgen müssen, und zwar auf Dauer.

Schröder verweigert sich dieser Einsicht konsequent, indem er das Thema Verteilungsgerechtigkeit einfach in „Teilhabe“ umbenennt. Jeder ist wieder seines eigenen Glückes Schmied. Armut ist letztlich individuelle Schuld. Das ist die Haltung des 19. Jahrhunderts. Es ist schon zynisch: An ihrem 140. Geburtstag wirken die Sozialdemokraten daran mit, genau jene Zustände der Klassenspaltung wieder herzustellen, die einst ihre Parteigründung ermöglichte. Insofern hat es durchaus dialektischen Witz, wenn Schröder in seiner Rede überzeugt ist, „dass eine große sozialdemokratische Epoche noch vor uns liegt“. Momentan jedenfalls findet sie nicht statt.

ULRIKE HERRMANN