Träum süß und stör nicht

Kaltgestellt im Altersheim: Pflegepatienten sollen ohne ihr Wissen und ohne ärztliche Anweisung nachts Beruhigungsmittel bekommen haben. Dafür sollen Medikamente von Toten verwendet worden sein. Mehrere Staatsanwaltschaften ermitteln

von Kai Schöneberg

Tags werden sie häufig abgefertigt wie ein Stück Vieh, nachts sollen pflegebedürftige Alte in Heimen jetzt sogar ohne ihr Wissen und ohne ärztliche Anordnung Beruhigungsmittel bekommen haben. Damit sie nicht stören.

Heimbetreiber und Pflegedienstleitungen in Niedersachsen sollen den Nachtwachen in Heimen die Anweisung gegeben haben, vor allem Demente nachts mit Opiaten, Blutdrucksenkern und anderen Beruhigungsmitteln in den Schlaf zu schicken. Wie der landespolitische Sender NDR 1 gestern meldete, steckt dahinter offensichtlich auch wirtschaftliches Kalkül der Heimbetreiber: Mit Hilfe der Tranquilizer soll eine Nachtwache möglichst viele Bewohner beaufsichtigen können.

Zum Ruhigstellen sollen in Schwesternzimmern Beruhigungsmittel von verstorbenen Patienten gelagert worden und nicht – wie vorgeschrieben – an die Apotheken zurückgegeben worden sein. Eine Untersuchungsgruppe der AOK in Niedersachsen hatte nach Hinweisen von Pflegern aufgedeckt, dass es in mindestens zehn Heimen „Depots“ mit verschreibungspflichtigen Medikamenten gibt. Mehrere Staatsanwaltschaften würden wegen des Verdachts des Medikamentenmissbrauchs ermitteln, erklärte ein AOK-Sprecher. Um welche Heime es sich handelt, wollte er nicht sagen. Angeblich sind bereits Verfahren niedergeschlagen worden, weil die Aussage von Examinierten gegen diejenigen der Pflegedienstleitung stand, andere Verfahren laufen noch.

„Empört“ reagierte der Sozialverband Deutschland (SoVD). „Die Vorwürfe erscheinen nicht absurd“, sagte Heike Kretschmann, die das Pflegenotruf-Telefon des SoVD in Niedersachsen betreut. Bislang sind zwar beim Notruf keine ähnlichen Fälle bekannt geworden. Allerdings würden sich Angehörige wie Pfleger aus Angst vor Repressalien schwer damit tun, Missstände anzuprangern.

Auch nachts sei die Personalsituation in vielen Altenpflegeheimen prekär, sagte Kretschmann. „Wenn die Leute den ganzen Tag im Rollstuhl sitzen und an die Decken starren, muss man sich nicht wundern, wenn sie nicht schlafen können.“ Der Einsatz von Opiaten ohne ärztliche Indikation sei besonders gefährlich, da die „Atmung abflacht“.

„Pflegeheime stehen unter Kostendruck, die Personallage ist angespannt“, betonte der Bereichsleiter für Pflege beim Diakonischen Werk der hannoverschen Landeskirche, Wilfried Wesemann. Es sei nicht ungewöhnlich, dass eine Nachtwache 50 Patienten beaufsichtige. „Das rechtfertigt aber nicht das Verhalten, Psychopharmaka ohne Verordnung des Arztes zu verabreichen“, meinte Wesemann. In Niedersachsen sollen die über 1.200 Pflegeheime wegen zahlreicher Beschwerden künftig stärker überprüft werden, hatten die Kassen erst vor drei Wochen angekündigt. Nun suchen Kontrolleure auch nachts und unangemeldet die Stationen der Heime auf.

Pflegenotruf-Telefon in Niedersachsen: ☎0180-200 08 72, montags bis samstags 8–20 Uhr, 6 Cent pro Anruf.