: Geschmäht, beladen, gestreichelt
Belgien erweist sich in einem Testländerspiel als dankbarer Aufbaugegner und gönnt der erneut daherrumpelnden DFB-Elf ein ungefährdetes 3:0. Selbst Teamchef Rudi Völler erkennt danach: „Natürlich müssen wir uns bis zur EM noch steigern“
AUS KÖLN MATTI LIESKE
Die Theorie vom schwachen Gegner passte Christian Wörns überhaupt nicht. „Wer will, kann das so sehen“, sagte der Dortmunder Abwehrspieler in einem für seine Verhältnisse schon sehr barschen Ton, „ich finde, wir haben ein gutes Spiel gemacht.“ Der Teamchef war etwas geständiger. „Der Gegner hat uns nicht so viel abverlangt“, räumte Rudi Völler ein, fügte jedoch Wörns-kompatibel hinzu: „Auch die Belgier muss man erst mal 3:0 schlagen.“ Nach dem 2:1 in Kroatien war es schon der zweite Sieg für das DFB-Team in diesem Jahr, der erste gelang gegen einen Teilnehmer der EM, der zweite am Mittwoch im neuen Kölner Stadion gegen eine Mannschaft, die sich nicht für das europäische Elite-Stelldichein qualifiziert hat, mitten im Neuaufbau steckt und die WM 2006 als nächstes Ziel im Visier hat.
Die nächste große Aufgabe für das deutsche Team wartet indes bereits im Juni bei der EM in Portugal, und eines ist gewiss: Gegner wie diese Belgier werden sie dort nicht treffen. Eine brave Abwehr mit dem 17-jährigen Vincent Kompany vom RSC Anderlecht als großartigem Stützpfeiler; ein zweikampfschwaches Mittelfeld, dessen Passspiel etwa die Präzision jener Mannschaft aufweist, die sonst im Müngersdorfer Stadion aufzulaufen pflegt; Angreifer, die ihre wenigen Chancen großzügig verschleudern, sowie Torhüter, die an der Linie festgewachsen und mitunter nicht ganz bei der Sache sind. Aber, da hat der Teamchef Recht, auch solch einen Widerpart muss man erst einmal bezwingen, schließlich hat sich die Mannschaft, die sich Vizeweltmeister nennen darf, in den letzten zwei Jahren diesbezüglich nicht immer mit Ruhm bekränzt. Viel war daher anschließend die Rede davon, wie gut dieses 3:0 für die Moral sei und wie schön man darauf aufbauen könne. „Jedes positive Resultat ist wichtig für uns“, sprach der weise Wörns, „jeder hatte seine Erfolgserlebnisse“, freute sich Interimstorhüter Jens Lehmann.
Der Keeper vom FC Arsenal bekam erst am Ende ein wenig zu tun und löste alle Aufgaben souverän. Von seiner persönlichen Befindlichkeit mochte er nur indirekt sprechen. „Manche schwimmen auf einer Erfolgswelle, andere machen gerade eine Durststrecke durch“, analysierte er die augenblickliche Situation der Nationalmannschaft. Jeder konnte sich an einem Finger abzählen, wer mit der Erfolgswelle gemeint war – er selbst – und wer mit der Durststrecke – so ziemlich der gesamte Rest. Während Lehmann mit Arsenal in allen Klubwettbewerben noch dabei und seit ewigen Zeiten ungeschlagen ist, kamen seine Teamkollegen als ein Kollektiv der Verschmähten, Mühseligen und Beladenen nach Köln. Entweder sie sitzen in ihren Vereinen auf der Bank, wie Nowotny, Bobic, Jeremies, Neuville, oder sie dürfen zwar spielen, krebsen aber in unerwünschten Tabellenregionen herum, bekommen das Gehalt gekürzt und müssen sich vorrechnen lassen, wie viele Minuten sie torlos und wie viele Rückennummern sie von der Zehn entfernt sind.
In solcher Not kommt ein Länderspiel wie das gegen Belgien gerade recht. Zum Beispiel für Stürmer Kuranyi, der jedes Mal in sein breites Kevin-allein-vorm-Tor-Grinsen ausbrach, wenn er auf seinen Treffer zum 1:0 angesprochen wurde. Da war ihm nach einer Ecke der Ball plötzlich dorthin geprallt, wo andere Leute ihren Bierbauch tragen, und dann ins Tor. Flaute abgehakt, Krise bewältigt. Oder Michael Ballack. Ein Kopfball nach Freistoß zum 3:0, schon sprechen alle wieder vom torgefährlichsten Mittelfeldspieler der Welt und nicht mehr vom überschätzten Offline-Netzer. Oder Dietmar Hamann, der Rückkehrer vom schwächelnden FC Liverpool, der zum „Schlitzohr“ (Völler) avancierte, weil sein 30-m-Freistoß wundersam den Weg ins Tor fand – wenn auch unter freundlicher Mithilfe des Schiedsrichters, der dem belgischen Keeper die Sicht verdeckte. Sie alle durften die von Jens Lehmann zitierten Erfolgserlebnisse genießen und sich entsprechende Streicheleinheiten abholen.
Alles bestens, könnte man also meinen, wäre da nicht das Spiel selbst gewesen, das fatal – oder famos, je nach Lesart – an die Auftritte bei der WM 2002 erinnerte. Tore aus dem Nichts bzw. nach Freistößen oder Ecken, Spielkultur Fehlanzeige. Trotz aller Dominanz im Mittelfeld wurde nur eine einzige Torchance aus dem Spiel heraus produziert, ansonsten grassierte behäbiges Ballgeschiebe, das sich mehr rückwärts als nach vorn orientierte. Der eifrige Torsten Frings betätigte sich vorzugsweise als Spielverwirrer, Bernd Schneider gab auf der rechten Seite den Ballverschlepper, Hamann spielte eine Art zentralen Schlafwagenschaffner vor der Abwehr und Ballack verstrickte sich in unzählige Zweikämpfe, um dann jeweils einen sauberen Sicherheitspass zu spielen. Vorne gab sich Kuranyi Mühe, seinen Ruf als spielender Mittelstürmer spazieren zu tragen, während Paul Freier in Belgiens Youngster Kompany seinen Meister fand. Der deutsche Youngster Philipp Lahm flitzte gewohnt emsig die linke Seite auf und ab, bekam aber nur halb so viel Bälle wie beim VfB Stuttgart und schaffte es mangels geeigneter Assistenz nie, zur Grundlinie durchzukommen. So bildeten Flanken aus dem Halbfeld das ultimative Offensivrezept, selbst für die kopfballschwachen Belgier ein gefundenes Fressen.
Der Erkenntnisgewinn, was die Chancen bei der Europameisterschaft betrifft, hielt sich angesichts der spröden Partie gegen einen schwachen Gegner in Grenzen. „Natürlich müssen wir uns bis zur EM noch steigern“, bilanzierte der Teamchef, war aber trotzdem leidlich zufrieden. Über die spielerische Misere tröstete er sich vorerst mit einem Satz hinweg, den er direkt aus dem Sprüchearsenal der WM in Asien gekramt hatte: „Tore aus Standardsituationen zählen genauso wie die anderen Tore.“