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Archiv-Artikel

„Sag, dass du ein Jude bist!“

In Neuruppin begann gestern der Prozess gegen drei junge Männer, die im Juli 2001 einen Bekannten grausam umbrachten. Die Polizei wurde erst nach Monaten geholt

NEURUPPIN taz ■ Die Brüder haben ihre Baseballmützen tief in die Stirn gezogen, als die Beamten sie in den Gerichtssaal führen. Ein Mord wird den drei jungen Männern vorgeworfen, den beiden Brüdern und ihrem Freund. Seit gestern sitzen sie im Landgericht Neuruppin auf der Anklagebank. Eine schweigende Wand.

Man kann nicht sehen, was hinter den Gesichtern vorgeht. Auch als die Brüder ihre Mützen abnehmen, man kann nicht sagen, ob sie das Grausame, was sie getan haben, bereuen. Den Mord am 16-jährigen Marinus Sch. Wegen einer falschen Hose und einer falschen Frisur.

Man weiß nur, dass der jüngere Bruder, der heute 18-jährige Marcel Sch., im November vergangenen Jahres noch geprahlt hat mit seiner Tat. Er war betrunken, und er hat ein paar Kumpels hingeführt auf das Gelände der stillgelegten LPG am Dorfrand von Potzlow, dem kleinen Ort in der Uckermark, wo sie alle herkommen. Marcel hat in der Jauchegrube gestochert und hat den anderen sein totes Opfer gezeigt. Den Leichnam von Marinus Sch.

Es war in der Nacht zum 13. Juli 2001 passiert. Marinus war 16 Jahre alt damals. Ein Junge, der Anschluss suchte bei den Starken im Dorf, weil er selbst ein Schwacher war. Am Tag vorher hatte es ein Dorffest gegeben. Jetzt saßen sie alle zusammen und tranken. Die Starken waren Marcel Sch., sein Bruder Marco Sch., 23 Jahre alt, und Sebastian F., 17 Jahre alt. Sie saßen zusammen wie Freunde. Plötzlich störten sich die anderen an der weiten Hose, die Marinus trug, an den blond gefärbten Haaren, seinem Sprachfehler. Sie selbst hatten Bomberjacken und Springerstiefel, die Haare waren kurz geschoren. Sie riefen: „Ein anständiger Deutscher trägt so was nicht. Sag, dass du ein Jude bist.“ Sie schlugen Marinus ins Gesicht, flößten ihm Bier und Schnaps ein. Erst spät ließen sie von ihm ab und schleppten ihn auf das Gelände der alten LPG. Dort traten sie weiter zu. Es kam zu einer stillschweigenden Übereinkunft, Marinus zu töten, sagt die Staatsanwaltschaft jetzt. Als der Puls nicht mehr schlug, versenkten sie den leblosen Körper des Opfers in der Jauchegrube.

Es hat vier Stunden gedauert, bis Marinus tot war an jenem Abend. Danach passiert vier Monate lang nichts in Potzlow. Keiner der drei hat etwas erzählt. Einige Wochen später schlug der ältere Bruder, Marco Sch., in Prenzlau einen Asylbewerber aus Sierra Leone zusammen. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Über den toten Marinus in der Jauchegrube kein Ton.

Erst viel später, im November, verriet sein jüngerer Bruder den anderen Freunden das Geheimnis der alten LPG. Er war betrunken an dem Tag. Keiner hat die Polizei gerufen danach. Aber es hat sich rumgesprochen. Und weil es herumging unter den Jungen im Ort, haben Kinder auf dem Gelände angefangen, selbst zu graben. Als sie auf die Leiche stießen, hat einer doch die Polizei angerufen, anonym.

Gestern hat nun also der Prozess gegen die beiden Brüder Marco und Marcel Sch. sowie ihren Freund Sebastian F. begonnen. Laut Staatsanwaltschaft ist die Zugehörigkeit aller drei zur rechten Szene „sehr deutlich“ zu erkennen. Die Angeklagten schweigen, die Anwälte verlesen ihre Erklärungen. Demnach wollte keiner der drei Marinus Sch. umbringen. Marcel Sch. sagt, er hätte einen Blackout gehabt. Sein Freund Sebastian F. meint, die Brüder seien die treibende Kraft gewesen. Er hätte aus Angst vor ihnen nur mitgemacht. Die Anwälte werden auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren. Wegen des Alkohols, der im Spiel war. Eine Frau hinten im Gerichtssaal weint. Morgen wird der Prozess fortgesetzt.

KIRSTEN KÜPPERS