: Letztes Gefecht um T5
AUS BERLIN MAREKE ADEN
Gegner können mehr als sich bekämpfen. Gegner können sich auch gegenseitig dabei helfen, besser zu werden. Musterungsärzte zum Beispiel werden immer besser darin, die Atteste von Kollegen zu dechiffrieren, die Tipps zur Ausmusterung geben. Die wiederum setzen alles daran, die enttarnten Codes zu umgehen. Es ist ein Gefecht, dessen Niveau stetig steigt.
Ein Schauplatz ist das Wartezimmer von Doktor Christian Günther. Es ist bereits morgens um acht voll. Es ist ein stiller Schauplatz. Verursacht wird die Stille von den wenig gesprächigen Patienten. Doktor Christian Günther sitzt in einem ärmeren Viertel von Berlin-Schöneberg und beschreibt seine Klientel so: „Viermal A – Arbeitslose, Arbeitsscheue, Ausländer und Arme.“
Ein Z fehlt. Z würde für Zivis stehen oder die, die keine werden wollen. Ein W fehlt auch, für Wehrpflichtige oder ein T für Totalverweigerer. Im Quartal kommen nach Günthers Angaben zwischen 50 und 100 Männer zu ihm, die weder an der Waffe noch im Altenheim dem Staate dienen möchten. Er hat ihnen schon viele Rückenleiden attestiert, Hüftprobleme, Haltungsschäden und „Scheuermänner“.
Beim Militär sieht man das nicht gern. Doktor Günther erzählt, dass Feldjäger einmal Feindberührung suchten und vor der Tür gewartet haben, seine Telefonleitung habe eine Zeitlang auffällig geknackt, und im Briefkasten lag Post von der Staatsanwaltschaft. „Die wollten mir was, weil ich angeblich auf medizinisch nicht zulässige Weise Krankschreibungen vorgenommen und so den Wehrkörper zersetzt hätte – oder so ähnlich“, sagt er. Die Formulierungen sind ihm auch egal, die Feldjäger fand er eher lustig und das Knacken? „Na ja, ich hab mich erkundigt, die dürfen das wohl.“ Vielleicht war auch nur das Telefon kaputt.
Christian Günther beschreibt sich als „Nachkriegskind“. Politisch war er zu einer Zeit, als den Deutschen laut SPD-Slogan noch die Hand abfallen sollte, wenn sie eine Waffe anfassen. Er hat sich verabschiedet von der Politik, selbst das Wählen und das Lesen hat er aufgegeben. Das, was er macht, macht er aber auch nicht unmotiviert. Die Unterstellung, ihn treibe nur das Geld, pariert er stets mit „Nein. Die Überzeugung.“
So weit geht die Überzeugung aber nicht, dass er jemanden, der nichts hat, ein Attest ausstellt. Das ist aus seiner Sicht allerdings ein seltener Fall. „Es gibt schon Leute, die komplett gesund sind. Selbst das habe ich schon erlebt“, sagt er. Aber was soll man machen, wenn die Rückenprobleme so weit verbreitet sind. Doch nicht nichts.
Diese Einstellung hat Doktor Günther einen kaum zu ruinierenden Ruf eingebracht. Beim Berliner Kreiswehrersatzamt spricht man ungefähr so über ihn: „Ein Arzt, bei dem man noch mal ganz genau untersucht.“ Doktor Ulrike Klamroth ist die ärztliche Leiterin der Musterungsbehörde. Sie muss es wissen. Das Berliner Kreiswehrersatzamt ist das größte in Deutschland. Gemustert wird hier im Akkord, täglich bekommen an die 80 Männer ihren Stempel, von T1, tauglich zum Kampfschwimmer, bis T5: „Sie können wieder nach Hause gehen.“ Ausschlaggebend ist, ob Klamroth und Kollegen an Körper und Geist der Männer Defizite erkennen oder nicht.
Was während der Musterungsuntersuchungen genau passiert, bleibt ein Geheimnis. Nicht einmal eingebettete Journalisten sind zugelassen. Nur eines verrät Frau Doktor Klamroth: Verschweigen kann man hier nichts, vortäuschen auch nicht. „Die Nuancen sind oft eindeutig“, sagt sie, und der Leiter des Ersatzamts, Elmar Gräber, gibt sogleich ein Beispiel: „Wenn jemand sagt: ‚Ich kann weder gehen, noch sitzen, noch liegen, noch stehen vor Schmerz‘ “, dann sei schnell klar: „Der will nicht.“ Irgendwie sei er ja hergekommen. Die Ärztin und der Behördenchef sind nicht erpicht darauf, die Leute gegen ihren Willen ins Militär zu ziehen. An sich sind beide liberale Geister. „Aber man lässt sich nicht gern austricksen“, sagen sie.
Zum Beispiel so: „Sagen, dass man schlecht sieht, aber immer nach der Krankenschwester schielen.“ Oder Rennen fürs Asthma. Das bringt nichts, weil man ja ein paar Stunden warten muss, bis man drankommt, und dann ist das Asthma wieder weg.
Selbstverständlich kennt Frau Doktor Klamroth auch den „Zickenrott“. Das ist jener Anti-Wehrdienst-Report, den Peter Zickenrott im Internet für 280 Euro anbietet und mit dem Slogan bewirbt: „Sie haben gewonnen! Und zwar 9 Monate schlecht bezahlten Abenteuerurlaub, Alternativgewinn 10 Monate Zuvieldienst. Mit dem Zickenrott wäre das nicht passiert.“ Wer also mit einem Begriff aus der Broschüre kommt, wird genauer untersucht. Schließlich werde nicht gleich jeder ausgemustert, der das Wort „Scheuermann“ sage, warnt Doktor Klamroth.
Hier kommt Doktor Günther wieder ins Spiel. Wenn jemand „Scheuermann“ sagt und dann auch noch mit einem Attest von Doktor Günther kommt, wird besonders aufgepasst und ein Musterungsorthopäde tritt auf. „Die finden immer heraus, ob jemand etwas hat“, sagt Klamroth. Mit Attesten von zwanzig anderen Berliner Ärzten verfährt man ähnlich. „Wenn es da eine schwarze Liste gibt, steh ich drauf, aber ganz dicke“, sagt Günther dazu. „Is mir ’ne Ehre.“
Eine Ehre, die strafbar sein kann. Die „Wehrpflichtentziehung eines anderen durch Täuschung“ ist ein Tatbestand, auf den bis zu fünf Jahre Gefängnis stehen. Aber weil Doktor Günther Orthopäde ist, hat er es nur mit messbaren Leiden zu tun. Das ist sein Glück. Die fünf jungen Männer zum Beispiel, von denen die Staatsanwaltschaft einst annahm, Günther habe sie illegal der Wehrpflicht entzogen, hat er alle in den Computertomographen schieben lassen und es schwarz auf weiß bekommen: Alle fünf hatten Rückenprobleme, und alle fünf hatte er darum zu Recht mit Attest ausgestattet. Feldjäger und Staatsanwälte haben bei ihm immer vergebens gesucht. Doktor Günther hat deswegen auch nichts dagegen, in diesem Artikel namentlich zitiert zu werden: „Ach du lieber Gott, ich hab doch keine Angst.“
Ärzte, die mit nicht messbaren Malaisen hantieren, haben es schwerer. Wer also wegen „schweren psychischen Leiden“ ausgemustert werden will, muss mehr Aufwand betreiben. Frau Doktor Klamroth gibt sich auch hier alle Mühe. Männer, die glauben, mit einer „Minderintellektualität“ kämen sie davon, säßen Minuten später beim Psychiater. Auch die Bettnässer-Nummer sei behördenkundlich und daher nicht mehr so beliebt wie noch vor Jahren.
Und Homosexualität? Ist auch nicht mehr das, was sie mal war im Militär: ein Ablehnungsgrund. Amtschef Gräber erzählt von einem jungen Mann, der die „Haare so hoch gegelt hatte und immer das Haarspray in der Tasche“ und der trotzdem von den Kameraden gefeiert worden sei. Schwule Soldaten schaden der Armee nur, wenn sie „nicht gemeinschaftsfähig“ sind. So der offizielle Terminus. Wenn jemand glaubhaft versichert, er werde sich in der Gemeinschaftsdusche nicht beherrschen können, ja, das würde reichen. Aber es kämen auch Männer, die behaupten zwar, sie würden sich nicht beherrschen können, „und dann sitzen die hier auf der Couch, und man hat selten angepasstere Leute gesehen.“
Bei den Ärzten, die junge Männer tatenreich von Waffe und Schieber abhalten, hat sich das herumgesprochen. „Homosexualität bringt es nicht mehr“, sagt einer von ihnen. Er könnte Schmidt heißen. Könnte, denn er zieht es vor, anonym zu bleiben. Schmidt hat sich auf einen sicheren Posten zurückgezogen. Ulrike Klamroth, sagt er, habe in den meisten Fällen bestimmt Recht mit ihrem „Alles kann man nachweisen“. Nur für Depressionen gelte das nicht, und wenn, dann nur mit aufwändigen Gehirnuntersuchungen. Aber so viel Geld habe das Militär ja nicht.
Doktor Schmidt ist schon ein wenig älter und betreibt in Berlin eine allgemeinmedizinische Praxis zusammen mit seiner Frau. Sie helfen auch beim Ausfüllen eines Wohngeldantrags. Schmidt gehört zu jener Sorte Männer, die schon in der DDR Probleme hatten und ihr Misstrauen gegenüber dem Staat bis heute pflegen. Die Polizei habe ihn nicht im Verdacht, sagt er. Aber ein Konkurrent. Es gäbe eben andere Methoden, Leute wie ihn einzuschüchtern, die heißen „Bauaufsicht, Gewerbeaufsicht und Finanzprüfung“.
Es ist nicht so, dass Schmidt etwas gegen das Militär hätte. Er empfindet fast so etwas wie Hochachtung. „Ich habe keine Ahnung, wie die das anstellen. Die ziehen nur zehn Prozent aller Leute ein und erwischen immer genau die zehn Prozent, die absolut gar keinen Bock haben.“
Gerade wegen dieses Geschicks hilft er denen, die lieber sicher gehen wollen. Das sieht dann so aus: „Sag, du bist depressiv und guck traurig.“ Der Haken an dieser Methode: „Na, das musst du auch erst mal schaffen, eine halbe Stunde traurig zu gucken.“ Das könne man aber lernen, glaubt Schmidt. Und dann muss der Gegner im Gefecht erst wieder ein bisschen besser werden.