: Die Stadt der vielen Symbole
aus St. Petersburg KLAUS-HELGE DONATH
Wer wissen wolle, wie es um Europa bestellt sei, müsse nach Sankt Petersburg schauen, prophezeite Friedrich Nietzsche an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Wer hätte es ahnen können? Zwei Jahrzehnte später geht von der Residenzstadt an der Newa ein Beben aus, das die ganze Welt erschüttern sollte. In den Konvulsionen der bolschewistischen Revolution 1917 versank nicht nur das alte Regime, auch die hochmütige Zarenmetropole trat ihre Vorreiterrolle an das Moskau der Räte und Volkskommissare ab. Zweihundert Jahre stand Petersburg auch für die Drohung, das amorphe Riesenreich unter die geometrischen Raster seiner künstlichen Entstehung zu zwingen.
Vergeblich, wie wir wissen. Seit fast hundert Jahren fristet es ein Dasein im Schatten Moskaus, der alten Metropole, die das selbstgenügsame, ein wenig träge und fortschrittsresistente Russland verkörperte. Doch für kurze Zeit läuft Petersburg Moskau in diesen Tagen den Rang ab. Heute sind dreihundert Jahre seit dem ersten Spatenstich vergangen, als Peter I. in den Sümpfen des Newa-Deltas eine Festung errichten ließ. Es sollte sein „Paradies“ werden, ein gebauter Traum und ein demonstratives Unternehmen, das sich über Unwägbarkeiten der Natur genauso siegesgewiss erhob wie über die Kultur des Reiches, von dessen Herrscher es betrieben wurde.
45 Staats- und Regierungschefs nebst Delegationen reisen vor dem Wochenende zu den Feierlichkeiten an, die parallel zum Treffen der G-8-Staaten, einem EU- und US-Russland-Gipfel stattfinden. Höchste Sicherheitsstufe gilt in der Stadt, verlangt den Bürgern einige Geduld ab und degradiert sie zu Zaungästen. „Warum mitfeiern“, so der larmoyante Volksmund, „die Stadt ist ja auch nicht für uns gebaut worden.“
Peter I. ließ damals Arbeiter im ganzen Reich zwangsrekrutieren. Abertausende von Toten kostete das Unternehmen, an die zu erinnern bis ins 19. Jahrhundert verboten war. Mit der Stadtgründung galt es, Russlands Anspruch als neue Seemacht in Stein zu verwandeln und den schwedischen Gegenspieler für immer auf Distanz zu halten. Dass die Erbauer gleichzeitig das Fundament einer anderen, westlichen Zivilisation in die Sümpfe trieben, war ihnen nicht bewusst. Peter, den die Russen erst später zu Peter dem Großen machten, schindete seine Untertanen wie jeder russische Herrscher vor und nach ihm. Die Rückständigkeit seiner Landsleute war ihm ein Gräuel. Es schien, als wäre Russland für ihn lediglich ein Nährboden für all das, was der Staat benötigte: Menschen, die man in den Krieg schicken oder denen man Abgaben und Steuern abpressen konnte, meint die Historikerin Olga Tschaikowskaja, die das Stereotyp des strengen, aber fortschrittlichen Zaren mit dem Bild eines gnadenlosen Tyrannen konfrontiert. Eine einsame Stimme in der Historikerzunft Russlands.
Die ausländischen Delegationen werden vom Flughafen zur neuen Residenz des Präsidenten in den Konstantin-Palast kutschiert. Das Ensemble ließ Wladimir Putin in Windeseile für 300 Millionen Dollar restaurieren. Kunsthistoriker Czeczot von der Petersburger Universität hält die aufwendige Renovierung für einen Rückfall in imperiale Attitüden. Putin, sagt man, findet Freude an Prunk und Pracht. Auf dem Weg zum Konstantin-Palast passieren die Würdenträger einen mehrere Kilometer langen grünen Bretterzaun, an dem die Bauarbeiter bis zuletzt nagelten. Er verdeckt unfertige Baustellen, aber auch das Leben, wie es in Russland nun mal auch ist: Windschiefe Katen, unordentliche Vorgärten, wilde Mülldeponien. Da helfen nur Potemkinsche Dörfer.
Der Weltenbummler Francesco Algarotti prägte 1739 das legendäre Bild der Zarenmetropole als eines „Fensters nach Europa“, lange nach dem Tod ihres Gründers. Peter untermauerte mit „Sanktpiterburch“ vor allem Russlands Großmachtanspruch. Und was hätte diesen treffender versinnbildlichen können als der Bau einer Stadt, die danach trachtet, die europäischen Metropolen nicht nur nachzubauen und zu kopieren, sondern noch zu übertreffen. Liegt hier der Ursprung des russischen Dranges, entwickeltere Gesellschaften einzuholen und zu überholen, an dem zuletzt die Generalsekretäre der KPdSU scheiterten? Dieses Verlangen braucht mehr als ein Fenster, es will selbst Schaufenster sein und muss gefallen, betören und auch ein wenig hinters Licht führen.
Der Blick vom Konstantin-Palast fiel vor einigen Tagen noch auf Hühnerställe, Viehtränken und einige Ziegen, auf selbst gezogene Tomatenstauden und Kartoffeläcker. Dies gibt es nun nicht mehr. Die Stadtverwaltung ließ in einer Nacht- und Nebel-Aktion alles einreißen und abbrennen. Die Geschädigten sind meist Rentner, die von der Subsistenzwirtschaft mehr schlecht als recht leben. Hätte man ihnen nicht wenigstens rechtzeitig Bescheid geben können, klagen sie. Sie verfluchen die Bürokraten, die ihnen das eingebrockt haben. Und Putin, der den Gästen die Wirklichkeit nicht zumuten will? „Ihn trifft keine Schuld“, meint eine Pensionaerin, „wenn er das wüsste, wäre er eingeschritten.“ Der Petersburger Putin steht bei den Landsleuten hoch im Kurs, er verkörpert den „guten Zaren“ in einem Heer von niederträchtigen Hofschranzen. Das unterscheidet ihn vom Gründungsvater, Peter dem Großen. Den hieltenAristokratie, Klerus und das einfache Volk für die Verkörperung des Antichristen, und die Stadt für einen Bastard der Hure Babylon. Verwünschungen durchziehen die Literatur: Möge diese Stadt an den Elementen, denen sie abgerungen worden war, auch zugrunde gehen!
Moskau und Petersburg verkörpern in der russischen Mythenbildung zwei gegensätzliche Pole. Das „heilige Moskau“ ist weiblich, betont gefühlvoll, weich, launisch und natürlich gewachsen, nicht entstanden. Petersburg dagegen ist hart und männlich, vernunftorientiert, geradlinig, in die Zukunft gewandt, aus Stein errichtet, und nicht wie Moskau aus Holz.
Über diese Konzeption zweier Städte führt Russland ein Zwiegespräch mit sich selbst, auch das seit fast 300 Jahren. Die eigenwillige Logik Russlands erlaubt es, Widersprüche auf Dauer stehen zu lassen. Dem liegt das Prinzip der Zwiespältigkeit – „dwoistwennost“ – zugrunde, das einem ganzheitlichen Dualismus gleicht, einer statischen Dialektik. Das Zusammendenken logischer Widersprüche erreichte einen Höhepunkt in der stalinistischen Spielart des dialektischen Materialismus. Der Totalitarismus machte sich immun gegen störende Ansprüche, indem er den Widerspruch gleich mitdachte. Das Ergebnis: rasender Stillstand. Das Zwiegespräch hat sich vom Gegenstand der Städte gelöst und gehört zur Liturgie russischen Denkens und russischer Politik. Wohin soll Russland gehen?
Wladimir Putin, der Petersburger, ging nach Moskau, wie alle, die Karriere machen wollen, und verordnete seinem Land nach dem 11. September einen forcierten Westkurs. Die Elite schäumte, wie damals bei der Stadtgründung.
Inzwischen hat Moskau die Dynamik an sich gerissen und das Tor zum Westen aufgestoßen, während Petersburg das letzte Jahrzehnt verschlief. Der Gouverneur, ein Intimfeind Putins, schaffte es nicht, die brachliegende Infrastruktur der Stadt zu modernisieren. So blieb es ein „Venedig des Nordens ohne Touristen“, wie Kunsthistoriker Czeczot sagt. Wer einen Schritt hinter die getünchten Fassaden wagt, in den dritten Hinterhof einsteigt – die Petersburger nennen sie „Brunnen“ –, der starrt in feucht-glitschige, übel riechende dunkle Höhlen. In einem von diesen Aufgängen im sechsten Stock sitzt das Komitee der 300-Jahr-Feier, das auf großzügige Investoren nach dem Fest baut. Zumindest die Reparatur des defekten Fahrstuhls sollte herausspringen. Man fühlt sich erinnert an das arme, kranke, schwindsüchtige, ja absurde Petersburg Dostojewskis oder Gogols, der in seiner berühmten Erzählung eine Nase hier Karriere machen ließ. Auch Gouverneur Jakowlew steuerte zu guter Letzt noch etwas Absurdes bei: Er ließ dem ersten Gouverneur der Stadt, Alexander Menschikow, ein Denkmal setzen. Der war verbannt worden, weil er zu kräftig in die Staatskasse gegriffen hatte, und kann als Stammvater der staatlich bestallten Diebe Russlands gelten.