Das Wunder vom Wedding

„Dabei bin ich doch eine ganz Liebe“: Franziska Jünger stiehlt, nötigt und prügelt derart überzeugend, dass alle Welt glaubt, sie spiele sich selbst. Vielleicht ist das das Geheimnis des kleinen Films „Kroko“, der durch sie ein großer wird. Eine Begegnung

VON CORNELIUS TITTEL

Marilyn Monroe hatte es, Jack Nicholson hat es noch, und auch sie wird es wohl nie mehr loswerden: das ergonomische Etwas, nicht mehr als ein Zusammenspiel von Muskelsträngen, das einen Schauspieler gehen, grinsen und blicken lässt wie keinen zweiten. Gehen wie Marilyn, halb federnd, halb wankend, wie ein Matrose auf Landgang, für den der Asphalt zu Pudding wird; grinsen wie Nicholson, viel zu breit für ein breites Grinsen – und, die Reihenfolge stimmt schon, blicken wie Franziska Jünger.

Man darf das ruhig so schreiben, ist es doch ein Blick, wie man ihn noch nie zuvor im Kino gesehen hat: Von ganz tief unten kommt er, die Pupillen halb vom oberen Augenlid bedeckt. Ein sehr weißer, lauernder Halb-Acht-Blick, der Verachtung und Gefahr signalisiert. Bis hierhin und nicht weiter, sagt er, eine letzte Warnung vor der totalen Eskalation.

Franziska Jünger weiß genau, wie die Menschen auf diesen Blick reagieren. Schon früher, lange bevor sie im Kino als Kroko die Straßen des Weddings unsicher machte, konnte sie seine verheerende Wirkung testen. „Ganz einfach, die Leute denken wirklich, ich wollte ihnen auf die Fresse hauen.“ Dabei lässt Franziska Jünger keinen Zweifel daran, die Herzlichkeit in Person zu sein, und wenn sie manchmal ein bisschen „tick t“ oder „über-aggro draufkommt“ – alles kein Grund zur Beunruhigung. Sie muss das klarstellen, gleich zu Beginn, weil eine Tip-Autorin total verängstigt zum Interviewtermin erschienen sei: „Nein, im Ernst“, sagt sie, immer noch verwundert, „das hätte ich nicht gedacht. Ich meine, ihr seid doch Journalisten, ihr müsst doch wissen, dass das eine Rolle ist, die ich spiele.“ Vielleicht ist es das schon, das Geheimnis dieses kleinen Films, der durch sie zu einem großen wird: Franziska Jünger stiehlt, nötigt und prügelt derart überzeugend, dass alle Welt glaubt, sie spiele sich selbst.

„Dabei bin ich doch eine ganz Liebe“, sagt sie und trifft es damit nur halb. Vor allem ist sie ein Überfall an Offenheit, der die nächsten zweieinhalb Stunden reden wird, als gäbe es kein Morgen, der immer wieder, wenn es allzu persönlich wird, die Hand übers Mikro legt, imaginäre „Bussis“ an Menschen verteilt, die „Kroko“ mögen, und gegen Ende des Gesprächs vorschlägt, man solle erst mal ihre Mutter kennen lernen – die sei nicht nur genauso schlank, sondern auch genauso drauf wie sie.

So verlockend das klingt, die Mutter muss warten: Gerade zum Beispiel fällt Franziska Jünger ein, wie sie und ihr Freund am Kino International vorbeikamen, zwei Wochen vor Filmstart, vom Putzen, schließlich reicht das Geld, das die 20-Jährige halbtags als Arzthelferin verdient, hinten und vorne nicht. „Egal“, sagt sie, vom Putzen halt, „und da hing dann dieses riesige gemalte Filmplakat, und ich hab zu meinem Liebsten gesagt, wie geil das wär, mal selbst da oben zu hängen. Ich hatte ja keine Ahnung.“ Kein Ahnung davon, dass sich überhaupt jemand für den Film interessieren würde – die ersten Reaktionen sollen nicht die euphorischsten gewesen sein. Dann aber sei alles Schlag auf Schlag gegangen. „Zack, zack, zack“, sagt sie und grinst dabei Ton in Ton mit ihrem Oberteil und den bierdeckelgroßen Plastikohrringen in Pink. „Zwei Wochen später hing ich selbst da oben, ich hab gedacht, ich sterbe, und dann die Interviews, die Filmkritiken, ausverkaufte Kinos, wirklich, mein Herz ist fast stehen geblieben.“ Schon jetzt ist klar, dass sie ganz anders ist als ihre Filmheldin Kroko, die kein Wort zu viel verliert. So minimalistisch Franziska Jünger auf der Leinwand agiert, so maximal aufgekratzt wirkt sie im echten Leben. „Ganz, ganz schlimm ist das“, gibt sie zu, „ich bin ja total hibbelig, und brauche immer jemanden, den ich zutexten kann.“

Und tatsächlich, Franziska Jünger hat eine Menge Text, der traurig sein kann ohne je traurig zu klingen. Sie erzählt von ihrer Kindheit in Borna, dem Vater, der sich umgebracht hat, der Mutter, die mit ihr über Ungarn nach Kreuzberg geflohen ist, ein paar Wochen bevor die Mauer fiel. Davon, dass sie nichts gehabt hätten, dass sie nichts schocken könne, nichts ekeln. Sie hätte gelernt klarzukommen. Dann springt sie im Text, ist plötzlich, Stichwort Schocken, bei Patienten, die sie waschen muss. „Und wenn dann einer nen Steifen kriegt, na und, da sag ich, nun krieg dich mal wieder ein.“ So geht das in einem fort, auf und ab, manische Textmassen, die sie durch irre Einlagen auflockert. Wenn ihr, nur zum Beispiel, beim Gedanken an einen verunglückten Lieblingscousin die Tränen kommen, greift sie in ihren Rucksack und tupft sich Sekunden später, ganz unbeabsichtigt, das Gesicht mit einem Slip in Leoparden-Optik trocken. So kippt die Trauer in Komik, und schon kann es weitergehen, im Text wie im Leben.

Ähnlich muss es beim Casting zu „Kroko“ gewesen sein: Die Regisseurin Silke Enders suchte eigentlich nur noch „Tanzmäuse für die Disko-Szene“, bis sie gekommen sei – sozusagen ein Slip in Leoparden-Optik anstelle des gesuchten Taschentuches – und prompt die Hauptrolle bekam.

„Eine Riesenbefreiung“, sagt sie heute, „die Ausbildung war der reinste Horror und so hatte ich wenigstens beim Drehen Spaß. Weil ich das erste Mal etwas gemacht habe, was ich wirklich machen wollte.“ Nicht, dass das Filmgeschäft sie je interessiert hätte, im Gegenteil, vor anderthalb Jahren ist sie zuletzt im Kino gewesen. Und dann sagt sie etwas, was all die coolen, vom Nachtclubtresen weggecasteten Mitte-Girls nie über die Lippen brächten, von Schauspielschülerinnen ganz zu schweigen. „Nur Julia Roberts, die lieb ich total.“

„Alles in allem der reine Wahnsinn“: dass ausgerechnet sie jetzt Schauspielerin ist, ihr zweiter Film mit Silke Enders im Sommer Premiere hat, dass sie modeln soll, Dreiteiler fürs ZDF drehen, noch mehr Interviews geben: „Jeden Tag sag ich meinem Freund, wie glücklich ich bin.“ Trotz all des Trubels: Am meisten freut sie sich, bei einer Geburt dabei sein zu dürfen. Ihre Regisseurin kriegt ein Kind, und: „Sie sagt, ihr Mann kippt sowieso um.“ So viel ahnt man bereits: Umkippen ist für Franziska Jünger keine Option.