Filme für die freudlose Gesellschaft

Einar Schleef ist einer, der schläft: Das Centre Pompidou zeigt die Retrospektive „Syberberg/Paris/Nossendorf“. Die Schau gewinnt Entertainmentqualität, wo die Dolmetscherin falsch übersetzt. Betulich wird sie beim Kindheitshaus in Nossendorf

von KATHARINA VOSS

Der Ankläger, der Außenseiter, das Medienopfer. Hans-Jürgen Syberberg hat von den Sechzigern bis heute einen ganzen Haufen kurioser Filme gedreht, die zurzeit in einer Retrospektive im Centre Pompidou in Paris gezeigt werden. Alles, was der Mülleimer der deutschen Geschichte so hergibt, bevölkert sein Oeuvre: Karl May, Ludwig der Zweite und sein Hofkoch, diverse Wagners, Parsifal, Hitler, aber auch Romy Schneider und Brecht. Seine Filme fanden in Deutschland keine sehr freundliche Aufnahme, während sich französische und amerikanische Kritiker begeistert zeigten. Foucault nannte „Hitler, Ein Film aus Deutschland“ ein „schönes Monster“, Susan Sontag nüchterner ein „Meisterwerk“.

Nach der großen, schweren, dunklen Trilogie aus den Siebzigern – 1972 „Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König“, 1974 „Karl May“, 1978 „Hitler, Ein Film aus Deutschland“ – entstanden in den Achtzigern und Neunzigern in Zusammenarbeit mit Edith Clever abgefilmte Monologe: Molly Bloom, Fräulein Else, Penthesilea, die Marquise von O. Der längste von ihnen, „Die Nacht“, dauert sechs Stunden und liegt damit nur knapp abgeschlagen hinter Hitlers etwas mehr als sieben Stunden. Zwischendurch besuchte Hans Jürgen Syberberg Winifred Wagner in Wahnfried und ließ sie erzählen, fünf Stunden lang.

HJS verstand seine Filme, vor allem aber sein „schönes Monster“ kathartisch, als der Prozess, der Adolf Hitler nie gemacht wurde. Katharsis ist ein anstrengendes Business. Ein übervolles Kaleidoskop, als Gegenstück zu verbrannten Büchern und verbotenen Filmen der reichsdeutschen „Kulturhölle“: ewig lange Monologe, durchgeknalltes Dekor, menschliche Schauspieler neben Puppen, Marionetten, Barbies im Fetischdress, Gummipuppen; „Herrschaft, Eros, Körper, Frauen“: Sado-Maso-Fascho-Kasperletheater für den Hitler in jedem von uns, denn auch darum geht es HJS. Und um die Manager und Politberater, die im bundesdeutschen heißen Herbst einfach nicht die RAFler in den Griff kriegen konnten, und um deren heimliche Sehnsucht nach strammer Ordnung im Land: Solche Vererbungslinien werden gesucht und aufgemacht. „Er – und wir. Ganz logisch“, heißt es an einer Stelle. Die Entwicklung des geölten westdeutschen Kapitalismus rühre daher, dass Geld das Einzige sei, was der Nationalsozialismus nicht für sich vereinnahmt habe. Ökonomie bedeute nicht „Drittes Reich“; aber man habe nach 1945 eben nicht mehr von „deutscher Kultur“ reden können. So die These. Die Anklage lautet: Du hast uns die Caspar-David-Friedrich’schen Sonnenuntergänge gestohlen.

Die Bestohlenen sind kaum besser als der Dieb. Die freudlose Gesellschaft wird 1981 Gegenstand einer gleichnamigen Kotzschrift gegen das deutsche Nachkriegsestablishment. Ein repetitives, erschöpfendes, von paranoiden Zügen nicht freies Buch. Alle sind irgendwie arschig: die Studenten, die denken, sie seien befreit und revolutionär, weil sie auf Tische scheißen; Oberhausen, das sich als Label für sozialkritische Filmemacherei bläht; die „sexuell Befreiten“, weil auch ihre Freiheit nur eine konsumistische Pseudofreiheit ist; die „totale Demokratie“ mit ihrer angeblichen Kulturfeindschaft; die etablierten Medien, Die Zeit, Die Süddeutsche, weil sie alle gegen ihn und seine „filmische Trauerarbeit“ sind („Natürlich gibt es keine Verschwörung“, aber die Filmpreisvergaben sind ein abgekartetes Spiel); Fassbinder, der „Messias des neuen deutschen Kinos“, der „Spiegel-Held“, die „Institution RWF, Boulevardfilmemacher der Wachstums- und Konsumgesellschaft, dessen konservative Narrationstechniken … Pseudoneuheit …“ und so weiter. RWF und Schroeter auf der einen Seite und HJS auf der anderen Seite beschuldigten sich gegenseitig des Plagiats; Herzog zeigte Solidarität mit HJS. Grass und Kunze finden Gnade. Der Rest ist die Kulturhölle BRD unter der Diktatur des Konsumkinos; auf der anderen Seite die Ostausgabe mit sozialistischem Realismus und Biermann-Feindschaft. HJS billigt sich aus seiner Outcastposition her eine besondere Luzidität. Beliebiger Pluralismus, Freizeitindustrie, Porno (und „linker KZ-Porno“), uniformer und jede Diskussion verunmöglichender Antihitlerismus, das sind die kulturellen Parameter im Land der „seelischen Eiszeit“. Warum, fragt er, hat man Hitler überwunden, nur um danach noch schlimmer zu sein als er? Was fand Syberberg gut? Es ist immer einfacher, alles als beschissen abzuklatschen.

Aber nicht alles ist bleischwer. HJS hat auch lustige Ideen gehabt. 1969 hatte er eines Tages spontan die Idee, bei einem niederbayerischen Softsexfilmproduzenten mit dem schönen Namen Alois Brummer vorbeizuschauen. So entstand „Sex Business – made in Pasing“, ein Höhepunkt in der Kunst des Dokumentarfilms. Deutscher Sex galore, nackt Bergsteigen und danach schnackseln im Kuhstall, in bayerischen Kiesgruben mit Wildwest-Deko gedreht, und die Dialoge zwischen der Geigen-Moni und dem Grafen Porno sind mindestens so toll wie die Brummer’schen Erläuterungen zu seiner Poetik. Und irgendwie ist es erleichternd, für ein paar Sekunden den breit grinsenden Syberberg im Bild zu haben.

Und jetzt? Einen neuen Film (1997) gab es zur Einführungsveranstaltung: HJS steigt mit seiner Kamera auf der Schulter einen Berg hinauf, drum herum Wald, der deutscher nicht aussehen könnte: die Art von Wald, die meinen Freund G. immer dazu bringt, beim Hindurchradeln Wagner zu singen. Hier kein Wagner, stattdessen „Kyrie!“ – Mozarts Requiem in einer äußerst schnellen Aufnahme. Dazu HJS’ Keuchen, weil der Pfad steil ist. Oben Kühe mit Glocken. „Stupeditet Natura …“ In den transzendentalen Outskirts der Zuschauererwartung schwebt eine schwere dunkle Wolke mit Lagerfeuer auf dem Berg, Hitlerjugend und germanischen Kampfliedern. Gruselig, deutsch, deutscher, am deutschesten. Was für eine Art von Statement ist das? Am Ende des Hitler war zu lesen: requiesquat in pace.

„Der Mythos, nicht die Psychologie, ist die Wissenschaft, um zu verstehen, was in uns ist.“ Und was ist das, was „in uns“ ist? Eine deutsche Seele, oder was? In der freudlosen Gesellschaft wird sie beschrieben: Uniformträgerei, „Unfähigkeit zu leben, sich zu amüsieren“ (woanders ist es anders: „die Italiener singen“), Bauerntreue, Konformismus, Gehorsam – Ordnung – Sauberkeit. Oh Mann! Hier befinden wir uns in der Tat im Königreich des Mythos. Zumindest erreichte die Veranstaltung zwischendurch echte Entertainmentqualitäten, als die Dolmetscherin Documenta mit Dokumentarfilm übersetzte und Einar Schleef mit jemand, der schläft. Tomaten flogen nicht auf die Bühne, aber eine kultiviertere Form von Entrüstung war festzustellen.

Und dann gibt es noch die Homepage und die Installation. Unter www.syberberg.de („Für Paris-Reisende ein Angebot besonderer Deutschland-Darstellung“) findet sich ein betulicher Informationswildwuchs zu Projekten rund um das „rückerworbene“ Haus der Kindheit des Künstlers im vorpommerschen Nossendorf, „am Arsch der Welt“, wo HJS ein Kulturzentrum einrichten will, Ort der Reflexion über „Preußen, Pommern, Deutschland und Europa“, und in das er „Erfahrungen und Ideen einbringen“ will, die er in der weiten Welt gesammelt hat. Im Untergeschoss des Centre sind halb offene Räume, in denen immer vier der Syberberg’schen Filme parallel laufen. Ein bisschen Bauschutt liegt herum. Und digital gemachte und ausgedruckte Fotos, Fotos und noch mehr Fotos 10 x 15, die über den Fortschritt der Renovierungsarbeiten unterrichten, und die Pariser und die Nossendorfer können sich gegenseitig via Webcams beäugen. Weiß nur kein Mensch, ob irgendwelche Pariser sich für ihre Nossendorfer Artgenossen interessieren. Vielleicht eher nicht. Des Weiteren in Mitleidenschaft gezogen ist das Berliner Hebbel-Theater, in dessen Foyer Leinwände stehen, auf denen aus Paris und Nossendorf live übertragen wird. Allerdings war am 9. Mai um 0.39 Uhr auf der Website zu lesen: „Mittwoch, den 7. Mai 2003. Paris webcams don’t move. Therefore wrong impression.“ Ich probiere trotzdem die Webcams aus. Die Pariser Webcam zeigt an: 11. Mai, 0.28 Uhr. In Paris ist es unscharf. In Nossendorf ist auch nichts los.

Bis 2. Juni, Katalog 18 €