: Den Blick der Linken weiten
Die Linke muss einen neuen Politik-Mix verfechten und gegen Diskriminierungen wegen Alter, Bildungsstand, familiären Verpflichtungen kämpfen
VON BARBARA DRIBBUSCH
Mit dem Wunsch nach Gerechtigkeit ist das so eine Sache: 26 Prozent der Bürger befürworten die Gründung einer neuen linken Partei. Aber nur 3 Prozent würden sie auch wählen. Viele Leute wünschen sich eine sozialere Politik. Doch gleichzeitig haben sie Zweifel daran, welche Akteure diese Politik umsetzen können. Eine linke Bewegung kann somit zwar ein starkes utopisches Potenzial nutzen – sie muss dabei jedoch unbedingt glaubwürdig sein.
Vor einigen Jahren wurde das linke Netzwerk Attac gegründet, vor einigen Wochen gelangten SPD-Abweichler mit ihrer Ankündigung, eine neue, besonders linke Partei ins Leben zu rufen, zu Medienruhm. Heute rufen die Gewerkschaften europaweit zu einem Aktionstag gegen Sozialabbau auf. „Es geht auch anders!“ lautet das Motto – die Frage ist nur: Wie?
Die Linke braucht, will sie bestehen, eine Neuorientierung. Es reicht nicht, nur defensiv und vergeblich gegen Praxisgebühr und Rentenkürzungen zu demonstrieren. In Zeiten klammer Sozialkassen stellen sich manche Gerechtigkeitsfragen nun mal neu. Nicht nur die Verteilung im Vertikalen, zwischen „oben und unten“, zwischen Arm und Reich, spielt eine Rolle, sondern auch die Verteilung im Horizontalen, zwischen der schrumpfenden Gruppe der Einzahler und der wachsenden Gruppe der Leistungsempfänger.
Der rentenbeitragszahlende Bauingenieur und Familienvater wird vom Sozialsystem genauso in Mitleidenschaft gezogen wie die Rentnerin in Rostock, die abgabenzahlende Floristin wie der Metallfacharbeiter im Vorruhestand. Die politische Navigation ist komplizierter geworden.
Doch ein alter Grundsatz der Linken gilt nach wie vor: Das größte Leiden ist der Ausschluss – von angemessener Beschäftigung und Einkommen. Ungleichheit macht wütend, doch ein Absturz ohne Wiederkehr macht Angst. Das ist schlimmer. Auf den Kampf gegen den Ausschluss muss sich jede linke Bewegung konzentrieren, will sie glaubwürdig bleiben und sich nicht mit Maximalforderungen aus der Wirklichkeit verabschieden.
Das Risiko des Absturzes ist heute hoch individualisiert: Die Angst vor dem Ausschluss hat der gekündigte 50-jährige IT-Fachmann, der wegen seines Alters nicht mehr zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wird. Die Angst hat auch ein 17-jähriger Hauptschulabsolvent, der auf seine Bewerbungen für eine Lehrstelle nur Absagen bekommt. Die Angst hat die allein erziehende Fachverkäuferin Anfang 40, die wegen ihrer mütterlichen Verpflichtungen nur eingeschränkt auf dem Jobmarkt verfügbar ist.
Alter, Bildungsstand, Ethnie und familiäre Verpflichtungen: Das sind die Diskriminierungstatbestände, der sich die Linke stellen muss. Es kann also nicht nur darum gehen, die Errungenschaften der unteren Mittelschichtmilieus zu sichern, auf die sich die Gewerkschaften konzentrieren. Die entscheidende Aufgabe besteht darin, die Zugänge zu Beschäftigung und Einkommen möglichst für alle offen zu halten.
Dies wirft ein paar Fragen zur Solidarität auf, denn wie groß beispielsweise ist eigentlich die Abgabenbereitschaft eines Daimler-Chrysler-Facharbeiters in Stuttgart, wohlorganisiert in der IG Metall, gegenüber jungen türkischen Hauptschulabsolventen in Berlin? Wie begeistert setzt sich ein grün wählendes Lehrerehepaar in Hamburg ein für arbeitslose Mittfünfziger in Angermünde? Wer sich für Sozialpolitik ausspricht, muss nicht nur eine Antwort haben auf die Verteilungsfragen zwischen den Wohlhabenden und den Armen, sondern auch zwischen Mittelschichten und den neuen Armutsmilieus.
Eine glaubwürdige Bewegung muss deshalb in einen Politik-Mix münden, der alte linke Forderungen mit Neuem verbindet. Richtig ist, höhere Vermögen und Erbschaften stärker zu belasten und den Spitzensteuersatz nicht noch weiter absinken zu lassen, wie es die Gewerkschaften fordern. Aber es ist genauso angebracht, im Zweifelsfall nicht mit höheren Sozialbeiträgen auf den Arbeitslohn, sondern mit einer höheren Mehrwertsteuer öffentliche Aufgaben zu finanzieren, wie es Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) vorgeschlagen hat.
Eine Politik der Zugänge muss nach wie vor Beschäftigungs- und Bildungsmaßnahmen finanzieren, aber dabei auch flexibler werden. Viele Erwerbslose können beispielsweise aus familiären oder gesundheitlichen Gründen nur noch Teilzeit-, aber keine Vollzeitjobs machen. Teilzeitarbeit, die durch staatliches Geld aufgestockt wird, könnte tausenden von Langzeitarbeitslosen zumindest eine echte Chance auf Beschäftigung bieten. In Großbritannien beispielsweise hat sich die Beschäftigungssituation nicht zuletzt durch diese subventionierten Teilzeitjobs verbessert.
Zum Politik-Mix gehören auch Anleihen bei der US-amerikanischen Antidiskriminierungspolitik. In den USA dürfen auf Bewerbungsschreiben weder das Geburtsdatum angegeben noch ein Foto beigelegt werden, damit Bewerber nicht aufgrund von Alter oder Hautfarbe vorderhand aussortiert werden. Warum verpflichten sich nicht auch deutsche Unternehmen, wenigstens mal für eine Zeitlang, bei ihren BewerberInnen ähnlich vorzugehen und starten eine Kampagne gegen Altersdiskriminierung ? Nebenbei wäre ihnen auch ein großer PR-Effekt sicher.
Umverteilen, Zugänge freihalten, gegen Diskriminierungen kämpfen – es gibt genug Themen für linke Bewegungen, sich der Ängste der Leute anzunehmen. Das Potenzial ist da. Ein Tunnelblick ist in der Psychologie immer ein Symptom der inneren Blockade. Es geht darum, den Blick auch der Linken zu weiten. Zehntausende von Unzufriedenen, die auf die Straße gehen, könnten ein Ansporn sein für den Austausch neuer Visionen.