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Archiv-Artikel

altersbedingte inkontinenz von RALF SOTSCHECK

Ich bin erledigt. Es lohnt kaum, morgens aufzustehen. Ich sollte stattdessen im Bett bleiben und auf das gnädige Ende warten, wenn ich meinen Mitmenschen Glauben schenken wollte. Seit sich herumgesprochen hat, dass ich heute 50 werde, behandeln sie mich wie einen Todgeweihten.

Neulich massierte ich möglichst unauffällig mein Knie, aber man bemerkte es doch. „Ach ja, das Alter“, sagte der Nachbar mitleidig, „das kenne ich. Man kommt ja kaum noch aus dem Sessel hoch.“ Er möge nicht von sich auf andere schließen, bellte ich ihn an: „Die Knieverletzung habe ich mir beim Fußballspielen geholt. Als ich 17 war. Und Demenz wird bei mir erst einsetzen, wenn ich dein Alter erreicht habe.“ Der Nachbar ist sechseinhalb Wochen älter als ich.

Noch ärgerlicher ist es, wenn die Mogule des Mitgefühls schuld an jenem Zustand sind, den sie ungefragt bemitleiden. Als ich vor Schmerz aufschrie, weil mir der große Zeh wehtat, meinte eine jüngere Bekannte scheinwissend: „Ein eingewachsener Nagel. Das fing bei meinem Opa auch mit 50 an.“ Ich erklärte ihr höflich, dass mein Zeh weh täte, weil sie mit ihrem Stilettoabsatz auf ihn getreten sei, doch sie überging meinen Einwand mit einer Miene, als hätte ich eine schlüpfrige Bemerkung gemacht. Dann fragte sie ebenso hämisch wie scheinheilig, ob sich mein Magen nach dem scharfen indischen Curry Vindaloo vorige Woche wieder beruhigt habe. Ihr Opa sei ungefähr in meinem Alter auf das milde Korma umgestiegen, riet sie mir.

In dem Augenblick klingelten ein paar nichts ahnende Kinder aus der Nachbarschaft und boten an, gegen ein kleines Entgelt das Auto zu waschen. „Der Wagen ist nicht dreckig, weil ich zu gebrechlich bin, um ihn zu waschen“, schnauzte ich die überraschten Gören an, „sondern weil er heruntergekommen aussehen soll, damit er in der Stadt nicht geklaut wird. Außerdem reicht ihr Knirpse gar nicht bis ans Autodach.“ Falls sie aber doch heranreichten, müsste ich das Waschen bezahlen, meinten sie. Flugs kletterte einer auf das Auto, und zwar der mit den Fußballschuhen. Die anderen warfen ihm einen nassen Schwamm nach oben. Die Kinder leisteten saubere Arbeit. Allerdings hat das Autodach jetzt lauter kleine Dellen von den Stollen.

Selbst bei der Wahl der Kneipe muss man in meinem Alter offenbar vorsichtig sein. Gleich um die Ecke eröffnete vor zwei Wochen das „Porterhouse North“, ein Wirtshaus, das nicht nur sein eigenes Bier braut, sondern auch 80 verschiedene Sorten importiert. Das Durchschnittsalter der Gäste lag bei 20, bevor ich mit einem gleichaltrigen Freund den Laden betrat. Zwei junge Männer, die sich vermutlich für gut erzogen hielten, boten uns ihre Stühle an. Ich lehnte dankend ab und wollte zum Tresen, als mich einer der jungen Männer am Arm packte und sanft über seine am Boden stehende Sporttasche geleitete. Nun war es mit meiner Contenance vorbei.

„Altersbedingte Cholerik“, murmelte der Jüngling und verschwand sicherheitshalber auf dem Klo. Ich pinkelte ihm in seine Sporttasche. „Altersbedingte Inkontinenz“, sagte ich entschuldigend, nachdem er zurückgekommen war und sich über seine nasse Sporttasche wunderte.