Ein ganz besonderes Schwein

Am Mittwoch wird Gerhard Schröder in Italien seinen sechzigsten Geburtstag feiern. Schon heute widmen wir dem Bundeskanzler diese Kurzgeschichte des chinesischen Schriftstellers Wang Xiaobo. Dessen Arbeit als Schweinehirt auf dem Dorf war zwar nur vorübergehend, aber dafür umso prägender

VON WANG XIAOBO

Das Schwein, von dem ich erzählen möchte, war ganz anders als die anderen.

Als ich vor langer Zeit als Schweinehirt arbeitete, war dieses Schwein schon vier oder fünf Jahre alt. Es war als Fleischschwein vorgesehen, aber trocken und dürr geworden und hatte glänzende Augen. Es war so geschickt wie ein Steinbock, sprang mit einem Satz über den Zaun des Schweinestalls hinweg, der höher als ein Meter war. Es konnte sogar auf das Dach des Stalls springen. Deshalb trieb es sich überall herum und blieb nie lange eingesperrt. Es war das Lieblingstier aller jugendlichen Intellektuellen, die sich um die Schweine gekümmert hatten, und es war auch mein Lieblingstier.

Nur zu uns jugendlichen Intellektuellen war es gut und duldete, dass wir uns ihm bis auf drei Meter näherten. Wenn andere Leute sich ihm nur von weitem zu nähern versuchten, rannte es sofort weg. Es war männlich und hätte kastriert werden sollen. Doch wehe dem, wer sich mit derlei Absicht an es heranwagte. Selbst wenn man das Kastriermesser hinter dem Rücken hielt, konnte es das Messer riechen. Dann riss es die Augen groß auf und fing laut an zu schreien.

Den Brei aus fein gemahlenen Hirseschalen gab ich immer zuerst ihm zu fressen. Erst wenn es genug gegessen hatte, vermischte ich den restlichen Brei mit wilden Kräutern und gab ihn den anderen Schweinen. Alle Schweine waren eifersüchtig und quiekten. Während es fraß war der ganze Stall immer erfüllt vom wütenden Geheul und Geschrei der anderen Schweine. Das machte aber weder mir noch ihm etwas aus. Wenn es sich satt gegessen hatte sprang es auf das Dach, um sich zu sonnen oder verschiedene Geräusche nachzuahmen. Es hatte gelernt, Geräusche von Lastwagen und Traktoren von sich zu geben, und das täuschend echt.

Manchmal war den ganzen Tag von ihm keine Spur zu sehen. Dann besuchte es bestimmt, so vermutete ich, seine Schweinedamen in den umliegenden Dörfern. In unserem Stall gab es natürlich auch Säue. Doch diese waren ständig im Stall eingesperrt und von zu häufigen Geburten verunstaltet. Es hatte kein Interesse für diese Säue. Die Säue in den herumliegenden Dörfern sahen besser aus.

Es verübte viele lustige Heldentaten, ließ sich nichts vorschreiben und führte ein freies und unbändiges Leben, wofür denn auch alle gebildeten Jugendlichen es liebten. Die Dörfler hatten aber keinen Sinn für solche Romantik. Sie sagten, dieses Schwein sei unanständig. Unsere Leiter hassten es geradezu. Ich mochte das Schwein nicht nur, ich hatte auch großen Respekt vor ihm. Ungeachtet der Tatsache, dass ich viel älter war, nannte ich es „meinen Schweinebruder“.

Wie gesagt, der Schweinbruder lernte verschiedene Geräusche nachzuahmen. Ich bin sicher, er hat auch versucht, wie Menschen zu sprechen, leider erfolglos. Wenn ihm das gelungen wäre, hätten wir uns wunderbar unterhalten können. Aber das war nicht seine Schuld. Die Stimme eines Menschen war zu verschieden von der eines Schweins. Irgendwann hat der Schweinbruder aber das Sirenengeheul gelernt, und dieses Kunststück brachte ihn richtig in Schwierigkeiten.

In unserer Nähe war eine Zuckerfabrik. Jeden Mittag heulte die Sirene, das war das Signal für den Schichtwechsel. Wenn wir auf dem Feld arbeiteten, machten wir beim Sirenenheulen Schluss und gingen heim. Mein Schweinebruder sprang aber immer um zehn Uhr aufs Dach und machte das Sirenengeheul nach. Die Leute auf dem Feld hörten dieses Geheul und gingen heim, anderthalb Stunden vor der echten Sirene der Zuckerfabrik. Offen gesagt war der Schweinebruder nicht allein schuld daran. Schließlich war der Schweinebruder kein Dampfkessel und sein Geheul doch von dem der dampfgetriebene Sirene durchaus zu unterscheiden. Die Bauern behaupteten aber felsenfest, sie könnten beide nicht auseinander halten.

Unsere Leiter veranstalteten speziell deswegen eine ernsthafte Sitzung und stempelten den Schweinebruder als böses Element ab, das die Frühlingsarbeit sabotiere. Sie beschlossen, die Mittel der proletarischen Diktatur gegen ihn anzuwenden.

Von diesem Sitzungsbeschluss bekam ich Wind, machte mir aber keine Sorgen. Wenn die Mittel der proletarischen Diktatur in diesem Fall Fessel und Schlachtmesser bedeuten sollten, würden sie nichts bewirken. Die Vorgänger der Leiter hatten es mit diesen Mitteln schon versucht. Der Einsatz von einhundert Leuten hatte nichts gebracht. Auch Hunde konnten ihm nichts anhaben. Wenn er losrannte, war er wie ein Torpedo. Und kam ihm ein Hund in die Quere, so konnte das Schwein ihn so heftig rammen, dass er fünf Meter weit durch die Luft geschleudert wurde.

Diesmal meinten die Leiter es aber ernst. Der Kommissar führte mit einer Armeepistole etwa zwanzig Leute an, sein Stellvertreter versammelte ein Dutzend Leute mit Flinten, und beide Gruppen veranstalteten auf dem freien Gelände vor dem Schweinestall eine Treibjagd. Das brachte mich in große Verlegenheit, weil ich mit dem Schweinebruder befreundet war.

Eigentlich hätte ich, zwei Schlachtmesser schwingend, hinausstürzen und an seiner Seite kämpfen müssen. Ich hatte aber nicht den Mut, meinen Vorgesetzten Widerstand zu leisten. Stattdessen stand ich nur abseits und beobachtete die Szene. Die Gelassenheit des Schweinebruders versetzte mich in größte Bewunderung: Er lief ganz ruhig auf einer Linie zwischen Pistolen und Flinten hin und her und verließ diese Linie nicht, einerlei, ob die Menschen brüllten oder die Hunde bellten. So hätten die Pistolen, wenn sie abgefeuert wären, die Flintenträger treffen können, und umgekehrt die Flinten die Pistolenhelden. Wenn beide gleichzeitig gefeuert hätten, wären beide Seiten angeschossen oder getötet worden. Er selbst bot ein so kleines und überdies bewegliches Ziel, dass die Schießerei ihm wahrscheinlich nicht einmal ernsthafte Verletzungen zugefügt hätte. Nachdem er ein paar Male hin und her gelaufen war, fand er endlich eine Lücke und stürmte aus der Einkesselung. Wie elegant er doch rennen konnte!

Später, viel später traf ich ihn noch einmal im Zuckerrohrfeld. Ihm waren die Hauer rausgewachsen, aber er kannte mich noch, nur erlaubte er mir nicht mehr, ihm nahe zu kommen. Das machte mich traurig, doch ich gab ihm Recht, dass er zu den unberechenbaren Menschen Distanz bewahrte.

Ich habe nun schon vierzig Jahre gelebt. Aber außer dem Schweinebruder habe ich in meinem Leben noch kein anderes Wesen getroffen, das es wie er gewagt hätte, dem für ihn vorgesehenen Leben die Stirn zu bieten. Ganz im Gegenteil, ich habe viele Menschen getroffen, die das Leben anderer zu bestimmen versuchen, und noch mehr Menschen, die ein von anderen vorgegebenes Leben führen und dabei sogar glücklich sind. Aus diesem Grund kann ich dieses Schwein, das seine eigenen Wege ging, nicht vergessen.

Übersetzung: Jia Zhiping