: Priorität: Entwicklung
Jacques Chirac hat für den G-8-Gipfel in Evian eine Agenda entworfen, die auch von Globalisierungskritikern stammen könnte
von KATHARINA KOUFENund GERHARD DILGER
Wie lange schütteln sie sich die Hände, wie fest ist der Druck, wie tief runzeln sich Schröders Lachfältchen rechts und links seiner Augen, wie weit kriegt George W. Bush seine Lippen auseinander? Wie begegnet Chaques Chirac dem amerikanischen Präsidenten? Fragen, die die Welt bewegen werden, wenn sich der deutsche Bundeskanzler, der französische und der amerikanische Staatspräsident ab heute zuerst auf der 300-Jahr-Feier von St. Petersburg und später beim G-8-Gipfel im französischen Evian begegnen – zum ersten Mal seit dem Nato-Gipfel vor mehr als einem halben Jahr in Prag.
Ein offizielles bilaterales Treffen wird es dabei nur zwischen Chirac und Bush geben – Schröder hat offiziell keine Zeit. Er muss am Samstagabend in Berlin zwischenstoppen, denn dort findet am Sonntag der Sonderparteitag der SPD statt. Im Übrigen sei „bei den Treffen in großer Runde genug Zeit für Gespräche“ – so formuliert es Alfred Tacke, der G-8-Berater des Kanzlers. Das gilt nicht für die französischen und russischen Präsidenten Chirac und Putin sowie für Kanadas Premierminister Chretien. Die trifft der Kanzler einzeln.
Der Irakkrieg und der Schatten, den er auf die Beziehungen der sieben wichtigsten Wirtschaftsstaaten plus Russland geworfen hat, wird auch die Stimmung in Evian trüben. Schon heißt es, im Vorfeld des Gipfels habe es neue Unstimmigkeiten zwischen Bush und Chirac gegeben: Chirac hat die Entwicklungspolitik ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt, Bush will aber die Bekämpfung des Terrors in den Mittelpunkt rücken.
So hat Chirac eine Agenda entworfen, die auch vom kritischen Gegengipfel stammen könnte: Afrika, Aids, Schuldenerlass und Trinkwasserversorgung stehen da, und „ganz großes Thema“ soll die „Entwicklungsrunde“ der Welthandelsorganisation werden (siehe Interview unten). Diese Schwerpunktsetzung liegt im Trend: Auch auf den letzten G-8-Treffen profilierten sich die jeweiligen Gastgeber als Freunde der Entwicklungsländer. Chirac setzt allerdings auch mit seiner Gästeliste noch eins drauf: Neben sieben afrikanischen Regierungschefs sind auch die Präsidenten der großen Schwellenländer China, Brasilien, Indien, Mexiko und Malaysia eingeladen. Insgesamt sind in Evian 80 Prozent der Weltbevölkerung repräsentiert.
Einer der neuen Gäste hat sich auch bereits zu Wort gemeldet: Brasiliens Präsident Lula da Silva schlägt eine weltweite Anti-Hunger-Initiative vor. Die Idee eines Anti-Hunger-Fonds hatte Lula bereits im Januar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos lanciert, kurz nachdem er die Hungerbekämpfung in Brasilien zu seinem wichtigsten Ziel erklärt hatte. Seither versucht er hinter den Kulissen Bündnispartner zu gewinnen und macht Andeutungen über die Finanzierung – eine teilweise Umwidmung von Auslandsschulden, eine Steuer auf den Waffenhandel, Beiträge proportional zum jeweiligen Rüstungsetat. Verwalten könnte das Geld etwa die Welternährungsorganisation FAO.
Neben dem Thema Irak dürfte der Handel für Streit zwischen den „Großen acht“ – USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada und Russland – sorgen. Die USA und auch viele Entwicklungsländer fordern die weltweite Streichung von Agrarsubventionen. Das könnte die Europäer in Bedrängnis bringen und vor allem Gastgeber Chirac, dessen Bauern sich besonders vehement gegen solche Vorschläge auflehnen.
Im Gegenzug stehen die USA im Auge der Kritik, wenn es um billige Medikamente für Entwicklungsländer geht. Denn Washington verteidigt nach wie vor das Recht der amerikanischen Pharmakonzerne, Medikamente zu patentieren und dadurch vor Raubkopien zu schützen.
Zwar ist es den ärmsten Ländern mittlerweile erlaubt, billige Kopien teurer Orginialprodukte vor Ort selbst herzustellen. Doch gilt dies bisher nur für Aids, Tuberkulose und Malaria. Die Entwicklungsländer wollen diese Regel aber auf andere Krankheiten, etwa Hepatitis, ausweiten. Und: Was, wenn ein Land gar nicht in der Lage ist, Medikamente herzustellen? Kambodscha zum Beispiel hat die höchste HIV-Rate in Asien – aber keine Firmen, die Aids-Medikamente herstellen. Also fordert Kambodscha die Erlaubnis, Medikamente aus Indien zu importieren.
Unterstützung finden solche Forderungen am Wochenende gar nicht weit von Evian entfernt: Auf der anderen Seite des Genfer Sees, in Lausanne, Genf und im französisch-schweizerischen Grenzdorf Annemasse tagt zurzeit ein Gegengipfel der Globalisierungskritiker.