: Gefährliche Disziplin
Spitzensportler müssen ihr Gewicht kontrollieren – manche von ihnen rutschen dabei ab in die Magersucht. Doch nicht nur aktiven Leistungssportlern droht eine Anorexia athletica
von JUTTA HEESS
„Ich war diejenige, die die meisten Probleme hatte. Mit 1,70 Metern bin ich die Größte, und nach der Vorschrift meiner Trainerin durfte ich nicht mehr als 43 Kilo wiegen. Wenn ich 44 wog, hatte ich nur Anspruch auf ein halbes Abendessen. Und weitere hundert Gramm mehr bedeuteten, dass ich nüchtern zu Bett gehen musste.“
Die Spanierin Maria Pardo war einmal eine talentierte Sportlerin. Mit der Nationalmannschaft der Rhythmischen Sportgymnastinnen bereitete sie sich 1996 auf die Olympischen Spiele in Atlanta vor. Neben hartem Training war der kritische Blick auf das Körpergewicht Teil des Pflichtprogramms. Jeden Morgen, pünktlich um acht, hieß es: allgemeine Gewichtskontrolle. Maria Pardo, damals fünfzehn, hatte Horror vor dem täglichen Schritt auf die Waage. Aufgrund der strengen Methoden der Trainerin und der hohen Leistungsanforderungen entwickelte sie eine Essstörung. In ihrem Tagebuch, das Ende 1996 in der spanischen Zeitung El País veröffentlicht wurde, schilderte sie ausführlich die unmenschlichen Trainings- und Lebensbedingungen der Kaderathletinnen. Kurz vor den Olympischen Spielen verließ Maria freiwillig die Nationalmannschaft – zuvor hatte sie in ihrer Leistung drastisch abgebaut.
Die spanische Gymnastin litt unter Anorexia athletica, der Magersucht bei Leistungssportlern. In manchen Sportarten kann ein geringes Körpergewicht leistungsfördernd sein, aber nur vorübergehend. Wenig essen, viel erreichen – diese Rechnung geht nicht auf. Denn der menschliche Körper macht die Tortur am Existenzlimit nicht lange mit. „Auf Dauer kann man diesen Status nicht halten, weil medizinische Komplikationen entstehen“, erklärt die Biologin Marion Lebensedt von der Deutschen Sporthochschule in Köln. Die Beschwerden sind vielfältig: Vitaminmangel, Mineralienmangel, Probleme mit der Knochendichte und Stressfrakturen, ausbleibende Menstruation, Herzrhythmusstörungen und Kreislaufprobleme. Und das alles wegen einer Medaille?
Maria Pardo ist kein Einzelfall. In den letzten Jahren wurden immer wieder Essverhaltensstörungen bei Leistungssportlern beobachtet. Doch nur wenige Athleten sind bereit, darüber zu sprechen. Eva-Maria Fitze hat es getan. Die deutsche Meisterin von 1997 im Eiskunstlauf äußerte sich vor drei Jahren in einem Spiegel-Interview ausführlich über ihre Ess-Brech-Sucht. Über ihren Wunsch, wie ein Supermodel auszusehen. Über die Äußerung einer Moderatorin, sie habe „ein paar Pfündchen zu viel“. Und über die Beschimpfungen ihrer Trainerin: „Fitze, fett, faul.“
Eigener Ehrgeiz, der Druck von Trainern und Eltern oder der strenge Blick der Juroren – das sind offenbar viele gute Gründe, dünn zu sein. Doch Eva-Maria Fitze musste ihre Karriere im Alter von siebzehn Jahren aus gesundheitlichen Gründen unterbrechen. Sie unterzog sich daraufhin einer Therapie und feierte in dieser Saison ihr Comeback im Paarlauf. Über ihre Essstörung möchte sie heute nicht mehr reden. „Wir wollen uns auf das Sportliche konzentrieren“, sagt ihr Trainer Ingo Steuer.
Verständlich, denn schließlich sind Bulimie und Magersucht bei Sportlern nicht nur ein vorübergehender Spleen. Die britische Kunstturnerin Christy Henrich musste ihren Wunsch nach einem dünnen Körper mit dem Leben bezahlen – zum Zeitpunkt ihres Todes wog sie bei einer Körpergröße von 1,45 Metern gerade noch 27 Kilo. Doch es ist zu einfach, dem Sport die alleinige Schuld an den Essstörungen zu geben. Schließlich erkrankt nicht jede Kunstturnerin und nicht jeder Skispringer an Anorexia athletica. Man geht davon aus, dass vor allem solche Athleten gefährdet sind, die eine bestimmte Veranlagung zu einem gestörten Essverhalten mitbringen. Begünstigt also der Leistungssport die Entwicklung einer Essstörung, die sowieso irgendwann eingetreten wäre? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage kann es nicht geben, zu komplex sind die Persönlichkeitsstrukturen eines Individuums.
Was man am Beispiel des Ruderers Bahne Rabe erkennen kann. Der Schlagmann des Achters, der 1988 die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Seoul gewann, starb im August 2001 an Magersucht. Ein auf den ersten Blick unbegreiflicher Fall, denn als aktiver Sportler brachte der 2,03-Meter-Mann fast hundert Kilo auf die Waage – ein dünner, schwacher Ruderer wäre auch niemals erfolgreich gewesen. Bei Rabe begann die Krankheit erst nach seiner Karriere; er hungerte sich auf 63 Kilo herunter. Sein Mitruderer im Olympia-Achter, Wolfgang Maennig, erinnert sich, dass Rabe nach seiner Zeit als Ruderer mit Bodybuilding begonnen und Wert auf eine sehr gute Muskeldefinition gelegt hatte. „Er war sowieso schon immer sehr körperbewusst.“
Nach seiner aktiven Laufbahn wurde der Sport also für Bahne Rabe ein Mittel zum Zweck, ein Mittel, seinen Körper zu kontrollieren und in Form zu halten. Viele Essgestörte treiben exzessiv Sport – weniger der Erfolge und Siege wegen, sondern einfach, um Kalorien zu verbrauchen und somit dünn zu bleiben. Auch Bahne Rabe sei ein sehr disziplinierter Ruderer gewesen, sagt Maennig, einer, der immer über seine Grenzen ging. Eine Anlage zur Selbstkasteiung scheint in ihm gesteckt zu haben, alles weitere ist Spekulation.
Magersucht gilt – obwohl sie sich körperlich extrem auswirkt – eine psychische Störung. Familiäre und persönliche Probleme werden dahinter vermutet, manchmal spielt sexueller Missbrauch oder ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität eine Rolle. Doch die Gründe für die freiwillige Bestrafung des Körpers können derart vielfältig sein, dass es keine allgemeingültige Erklärung gibt. Auch im Fall von Bahne Rabe herrscht Ratlosigkeit: Zwei Tage vor seinem 38. Geburtstag starb er an einer Lungenentzündung – sein geschwächter Körper konnte die Krankheit nicht mehr abwehren.
Das Schicksal von Bahne Rabe ist ein extremes und tragisches Beispiel für den Zusammenhang von Sport und Magersucht. Doch die Gefährdung ist offensichtlich, sowohl im Leistungs- als auch im Breitensport. Deshalb wird die Deutsche Sporthochschule, unterstützt vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft, demnächst eine Broschüre herausgeben, die Sportler über das Problem aufklären soll. Ansprechpartner werden ebenso angeführt wie physische und psychische Anzeichen, die auf eine Anorexia athletica hinweisen.
Damit sich Essstörungen bei Leistungssportlern nicht weiter ausbreiten, ist man auch am Olympiastützpunkt in Dortmund aktiv geworden. Ein multidisziplinäres Team, bestehend aus einer Psychologin, einer Ernährungswissenschaftlerin und einem Sportmediziner, betreut betroffene Athleten und Athletinnen. Ziel der Arbeit sind Früherkennung und Vorbeugung – eine Essstörung soll so rechtzeitig festgestellt und bekämpft werden.
Je früher, desto besser, das dachte sich auch eine junge Leistungssportlerin, die durch einen Zeitungsartikel auf das Präventivprojekt in Dortmund aufmerksam geworden ist. Wegen eigener seltsamer Essgewohnheiten hat sie sich an das Team gewandt. „Ich habe mir immer so viele Gedanken ums Essen gemacht. Ich hatte Angst, dass ich in eine Essstörung rutsche, und wollte es nicht dazu kommen lassen.“ Die achtzehnjährige Ausdauersportlerin möchte anonym bleiben, sie trainiert im C-Kader und nimmt an internationalen Meisterschaften teil. Ihr langfristiges Ziel ist die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2008.
Jetzt wird sie seit neun Monaten regelmäßig von den Experten betreut, zugleich kann sie ihren Sport weiter ausüben, da sie in einem sehr frühen Stadium Hilfe suchte und noch keine körperlichen Beschwerden hat. Das ist genau das Ziel, das sich das Trio gesetzt hat. „Wir wollen ja nicht warten, bis die Sportler im Krankenhaus liegen und mit Infusionen ernährt werden, sondern wir wollen im ganz frühen Stadium ansetzen“, erklärt der Sportmediziner Ernst Jakob. Gemeinsam mit der Psychologin Gaby Bußmann und der Ernährungswissenschaftlerin Nora Boennhoff will er verhindern, dass immer mehr Sportler erst dann zur Beratung kommen, wenn die Essstörung schon weit fortgeschritten und es für eine erfolgreiche Therapie vielleicht schon zu spät ist. Deshalb sei es wichtig, dass Trainer und Betreuer, die vor allem mit jugendlichen Sportlern zu tun haben, aufmerksam und sensibel sind. „Die Trainer dürfen sich nicht scheuen, spezialisierte Untersuchungs- und Beratungsstellen aufzusuchen.“ Aber gerade im Trainerbereich müsse noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, ergänzt Gaby Bußmann.
Doch die Experten warnen ebenso vor übertriebenen Reaktionen. Nicht jeder dünne Mensch muss gleich essgestört oder sogar magersüchtig werden. Und nicht jeder dünne Leistungssportler muss befürchten, an Anorexia athletica zu leiden. Selbst eine gewisse Veranlagung, das eigene Gewicht zu kontrollieren und sich zu disziplinieren, muss nicht unmittelbar krankhaft sein. Das kann sich jedoch schnell ändern. Und dieses Verhalten ist meist nicht mehr aus Kopf und Körper herauszukriegen – es kann süchtig machen. Auch und besonders nach einer aktiven Karriere. Fehlt nämlich erst einmal der Sport, der sonst den Alltag zeitlich und inhaltlich dominierte, können die Beschäftigung mit dem Körper und die Angst, dicker zu werden, zunehmen. Solchen Aussteigern aus dem Leistungssport Hilfestellung zu geben ist demnach auch eine wichtige Aufgabe für die Betreuer.
Und erneut wird deutlich, dass eine klare Kausalität zwischen Sport und gestörtem Essverhalten nicht besteht. „Die Gründe sind sehr komplex, eine einfache Formel werden wir dafür nicht finden“, sagt Gaby Bußmann. Sucht sich der Mensch mit einer Veranlagung zur Essstörung den Sport, oder begünstigt der Sport die Entwicklung einer Essstörung? „Das ist wie mit der Henne und dem Ei.“
JUTTA HEESS, 31, lebt als freie Journalistin in Berlin. Ihr Radiofeature „Siegeshungrig – Wenn Magersucht zum Gegner wird“ läuft am morgigen Sonntag um 17.30 Uhr im Deutschlandradio