: Der Genesis-Vorleser
Bibelarbeit mit Bernhard Schlink: Der Schriftsteller interpretiert Jakobs Kampf mit Gott. Und er empfiehlt den 2.000 Zuhörern: „Holt an Gutem heraus, was es zu holen gibt, und lasst nicht lockert“
von JAN FEDDERSEN
Kinder kennen diese Geschichte aus der Bibel, denn sie wird häufig vorgelesen in Gottesdiensten extra für sie. Und die Kleinen mögen diese Überlieferung aus dem 1. Buch Mose, aus der Genesis, den Berichten von der Entstehung dessen, was das Göttliche genannt wird. Denn sie bleibt nach vielen Lektüren frisch, weil geheimnisvoll wie beim ersten Lesen: Die Story von Jakob, der am Flusse Jabbok des nachts mit Gott kämpft, wobei er nicht weiß, dass es der Herr ist, gegen den er es aufnimmt. Was seine gute Seite insofern hat, als Jakob keinen Respekt zeigt vor den ihm schon vom Begriff her stets Überlegenen. Tapfer ringt er ihn nieder, obwohl Gott ihn an der Hüfte übel verletzen konnte.
Und diese Geschichte trug gestern Bernhard Schlink vor, 58 Jahre jung, Jurist und Schriftsteller, und in letzterem Beruf berühmt geworden durch den Roman „Der Vorleser“. Die Halle 20 auf dem Berliner ICC-Gelände ist proppenvoll, gewiss 2.000 Menschen wollen hören, wie er die Sache sieht. Schlink genießt in christlichen Kreisen (und ja nicht nur dort) einen Ruf als Versöhner und Mahner und Leser zwischen den Zeilen. Das ist der Inhalt jener Prominenz, die ihn zum Star unter den Lektoren der Bibelstunden auf diesem Kirchentag macht.
Schlink also bürstet die Geschichte in gewisser Hinsicht gegen den Strich. Trägt vor, dass es eine psychoanalytische Sicht gebe, die in diesem biblischen Ausschnitt einen quasi ödipalen (und erfolgreichen) Kampf gegen die Kastrationsängste durch den Vater lesen möchte. Und wendet ein, diese Perspektive habe nur den Vorteil, zu sagen, was es ohnehin zu lesen gäbe. Tauglicher aber sei, eben dies zu spüren und zu wissen, was nicht benannt wird: dass der Herr Jakob in seinem Kampfesmut machen lässt, ja, ihn sogar bezwingt. Das sei, so Schlinks Vorschlag zur Lesart dieser Stelle im Alten Testament, alles in allem, eine Offenbarung vor dem Morgengrauen, denn Gott, der Widersacher Jakobs, der Überlegene schlechthin, kastriere ihn eben nicht wegen mangelnden Respekts. Im Gegenteil sei die Geschichte eine Ermutigung, es mit allen Mächtigen aufzunehmen, ob man sie als solche erkenne oder nicht: Steh für dich ein, mag als Moral verstanden werden, doch Schlink meint mehr.
Nicht allein, dass er sagt: „Holt an Gutem heraus, was es zu holen gibt, und lasst nicht lockert.“ Das ist kämpferisch genug, verweist es doch auf die Spiritualität, die sich der Plage der Langeweile und der Mühsal der Routine widersetzt. Mehr aber noch fordert er die Begegnung mit Gott, ja, die Suche nach dem, was über Materielles, über Psychisches hinaus geht – und meint, wenn das Publikum richtig verstanden hat, unumwunden das Wunderbare, das Überraschende, das Geheimnisvolle: „Wenn wir nicht wissen, wer Gott ist, und wie wir ihn zu fassen kriegen können, bleibt nur, es wissen zu wollen.“
Und hat Schlink schon deshalb dankbaren, weil verdienten Beifall bekommen, weil er die Suche nach dem Göttlichen nicht und niemals für vergebens hält, weil er, so gesehen, jeden Kampf um das Bessere als lohnenswert begreift, so prasselt Applaus ihm entgegen, weil da einer bekennt, nicht immer, aber immer öfter in die Kirche zu gehen – und, eben wie Jakob am Flusse Jabbok, nie den Kampf mit seinem Gott zu lassen:
So will er, Bernhard Schlink, suchen, und so will er sich finden lassen – ob ihm die Hüfte weh ist oder nicht.