: Starke Störungen
Clash der Nationalitäten und Stile: Regisseure aus sechs Ländern arbeiten sich am Hamburger Thalia Theater an Armin Petras’ „Learning Europe“ ab
von Petra Schellen
Zwecklos, dies als Stück zu beurteilen. Sinnlos auch, die 19 Szenen bzw. „Hausaufgaben“ von Armin Petras‘ Learning Europe, das jetzt am Hamburger Thalia in der Gaußstraße uraufgeführt wurde, zu einem Ganzen verweben zu wollen: Europa bleibt ein Konglomerat, und das einzig Traurige ist, dass man erst ins Theater gehen muss, um Litauisch oder Slowenisch zu hören. Denn die Gleichgültigkeit des Westens gegenüber dem Osten hat sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht verändert. Eine Nachlässigkeit, die der Osten längst nicht mehr übel nimmt, die aber die konstante Selbstgefälligkeit der Industrienationen offenbart.
Aus der Slowakischen Republik, Slowenien, Litauen, Luxemburg und Deutschland kamen die sechs Regisseure und zwölf Schauspieler, die sich – im Rahmen des „Refugee“-Projekts der Europäischen Theater Convention (ETC) – den Aufgaben des Stücks stellten. Die Bedeutung der eigenen Geschichte und Kunst, Liebe und Hass in Bezug auf das eigene Land sollten reflektiert sowie für einen Einwanderer gekocht und dies per Video dokumentiert werden. Verklammern sollten das nach der Uraufführung tourende Stück zwei Moderatoren des jeweiligen Gastgeberlandes.
Durch Reflexion Distanz zum eigenen Land zu schaffen war dabei vordringliche Aufgabe für Regisseure und Akteure; das Resultat mit denen der übrigen Gruppen zu konfrontieren eine andere. Je drei Szenen, die einander teils erheblich störten – das EU-Nachbarschaftsproblem lässt grüßen – waren daher stets parallel zu sehen. Das Zeitlimit pro Szene: rund drei Minuten.
Dicht und elementar zu werden war somit die einzige Chance, dies formale Korsett zu überleben, Abstand zum eigenen Tun ein mögliches Ergebnis – doch dies bot fast keine Gruppe: Stark in sich selbst befangen blieb etwa das slowenische Team (Bara Kolenc, Boris Mihalj), das formal und pathetisch auftrat, mal eine intensive Pietà mit archaischem Trauergeschrei bildete, dann wieder kaum gebrochene Vergewaltigungsszenen nachstellte.
Selbstkritisch und ironisch ging der litauische Regisseur Adolfas Večerskis das Thema an; Teil seiner Präsentation war ein Video litauischer Neonazis. Auch der Stolz auf das eigene Land wurde gebrochen, wenn der Vortrag von Vytautas Rumšas über die „schönste Kirche von Vilnius“ der Touristin (Jurga Kalvaityte) nur ein nachsichtiges Lächeln entlockte. Und die beiden Luxemburgerinnen geißelten die Gleichgültigkeit ihrer Landsleute – ein Problem, das in krassem Kontrast zur patriarchalen Gewalt stand, die Slowaken und Slowenen monierten.
Die Deutschen (Alexander Brill und Jörg Kleemann) wiederum glänzten durch lange Hasstiraden über ihr Vaterland. Ein bewusst karikiertes Klischee unsinnlichen Sprechtheaters, das umso härter wirkte, als die Slowenen sich derweil in nonverbalem Ineinander-Verkeilen ergingen? Die Litauer als Wanderer auf dem Grat zwischen Selbstbezogenheit und Gleichgültigkeit?
Nutzlos, solche Kategorien zu setzen; sinnreich eher, sich klar zu werden über den eigenen Wertungsreflex: Wieso Pathos und Ironie gegeneinander ausspielen? Könnte den Westeuropäern nicht etwas entgangen sein, wenn sie osteuropäische Totenklagen nur noch als „penetrant“ empfinden? Sollte in den westeuropäischen Gesellschaften das Leid – mangels zeitnaher Kriegserfahrung – so stark ins Private zurückgedrängt sein, dass nicht einmal mehr Einfühlung möglich ist?
Psychologisierende Fragen, die nicht weiterbringen, weil sie wieder dem Vergleich huldigen und historisch-soziologische Unterschiede vernachlässigen. Doch birgt dieser Abend eine Gefahr, der die Regisseure – Adolfas Večerskis ausgenommen – nicht entronnen sind: vor lauter Konzentration auf das Eigene zum Klischee seiner selbst zu werden. Denn ein echtes Heraustreten aus der einmal gefundenen Form bot niemand; das Klischee gepflegter Laberkultur zu brechen gelang auch den Deutschen (Regie: André Turnheim) nicht.
Worin die Ursachen für solche Erstarrung liegen – schwer zu orten: Vermutlich sind die Regisseure in die vom Autor gestellte Falle namens „Unterteilung in Nationen“ getappt, obwohl Mixturen durchaus erlaubt gewesen wären. Eine Festlegung ohne Not, die bestätigt, was das Problem (nicht nur) Europas ist: das Ausharren in der eigenen Verfasstheit, wobei an diesem Abend das Maximum an nachbarschaftlicher Kenntnisnahme im Verstummen angesichts des nebenan keimenden Videos bestand. Was blieb, war nur ein winziger Trost: jene Szene, in der der Slowake aufhört, seine Frau zu schlagen, weil die Litauerin nebenan den Mythos von König Mindaugas rezitiert.
Nächste Aufführungen: in Frankfurt/M. 15.-17. 04.; Bratislava 23. & 24.04.