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Archiv-Artikel

Das ganz große Remmidemmi

Extrem ist für sie normal: Deichkind gehen ans Limit, das Publikum in der Columbiahalle ging am Donnerstag mit

Das Bild ist einfach entwaffnend: Ein Tänzer im Müllsackkostüm gleitet mit dem Schlauchboot über das Publikum. Auf die Idee, das Stadionphänomen „La Ola“ direkt beim Wort zu nehmen, muss man erst einmal kommen, und viele Hände recken sich, um Mann und Boot sicher zu geleiten. Beim ersten Mal klappt es nicht so ganz, das Boot kentert, der Tänzer landet im Händemeer. Doch bei einem Deichkind-Konzert droht stets Kontrollverlust, wie auch am Donnerstag in der weitgehend enthemmten Columbiahalle, als die Band ihr neues Album „Arbeit nervt“ vorstellte.

Deichkind sind nicht die beste Hiphop-Band Deutschlands. Was aber nur daran liegt, dass sie keinen Hiphop mehr machen. Als „Electric Super Dance Band“, wie sie sich nennen, bleiben die Hamburger unübertroffen, und ihre Shows sind vielleicht das Größte, was im deutschen Popgeschäft zu haben ist. Das Tolle daran: Bei Deichkind beschränkt sich das Spektakel nicht auf Selbstdarstellungsgrößenwahn, sondern dient als Turbolader für die ganz wilde Party.

Die Männer mit den Müllsack-Outfits hatten es immer ein bisschen schwer in der deutschen Hiphop-Landschaft. Irgendwie waren ihre Texte anders, und rein äußerlich passten sie gar nicht zur Rapper-Szene. Statt sich anzubiedern, machten sie einfach ihr Ding weiter und entfernten sich zunehmend von allen Hiphop-Klischees. Mit ihrem Hit „Remmidemmi“ schufen sie dann vor zwei Jahren eine nach wie vor wirksame Wunderwaffe aus Technobeat und Hiphop-Reim, deren Schlagkraft sich auf die kurze Formel des Refrains bringen lässt: „Yippie Yippie Yeah/Yippie Yeah/Krawall und Remmidemmi“.

Deichkind gehen, wie es in einem frühen Hit heißt, bis ans „Limit“. Das gilt für ihre Texte, in denen Geschmacks- und Schmerzgrenzen gerne mal ignoriert werden, vor allem aber für ihre Auftritte, bei denen die Band virtuos zwischen Choreografie und Chaos balanciert. Sie gehen auch an die Grenze dessen, was man von einem Konzert erwartet. So müssen ihre Tänzer nicht nur Trampolin springen oder das Publikum mit den Schläuchen des „Saufomaten“ tränken, zur Einstimmung auf den aktuellen Hit „Arbeit nervt“ schnellen sie sogar an Bungeeseilen von der Bühne hoch, um zirkusreife Akrobatik zu präsentieren. Von Song zu Song wechselt die Szenerie wie bei einer Nummernrevue, was bleibt, sind die neonfarbenen Streifen der Kostüme.

Auch die Musik wird nicht bloß heruntergespielt, jeder Titel ist Teil einer Dramaturgie, in der Intros zum Spannungsaufbau unendlich gedehnt oder Stücke um neue Passagen ergänzt werden. Besonders schön in der Nummer „Ich und mein Computer“ vom aktuellen Album, einer späten Antwort auf Kraftwerks „Computerwelt“. Die vier Rapper stellen sich in Manier der Düsseldorfer Elektronik-Überväter hinter ihren Laptops auf, um von den Missgeschicken mit ihrem „Plastik mit dem Apfel“ zu berichten – und plötzlich erklingt ein Sample aus dem Kraftwerk-Song „Computerliebe“.

Die Teamarbeit auf der Bühne kann man nur als große logistische Leistung preisen. Und das, obwohl Deichkind-Veteran Buddy Inflagranti inzwischen nicht mehr mit von der Partie ist und bei den Konzerten von Ferris MC vertreten wird. Wie Ersatz wirkt der Brachial-Rapper hingegen nie, er scheint voll und ganz ins Geschehen integriert. Als Zugabe erklingt dann zum zweiten Mal „Remmidemmi“, den Text grölt das Publikum weitgehend allein. Zur Belohnung wird es mit reichlich Konfetti, Federn und Wasser aus dem Super Soaker versorgt.

Wie heißt es doch in einer Strophe: „Ich will nackt sein/Im Pool kann man sich erfrischen.“ Der Pool fehlte, erfrischt wirkte das nassgespritzte und gefederte Publikum trotzdem, als es dann selig ins Freie taumelte.

TIM CASPAR BOEHME