: Gemeinsam nur aufs Klo
vom Genfer See DOROTHEA HAHN
„Willkommen in Genf“, hat der Bürgermeister in den Prospekt geschrieben, den lächelnde junge Damen seit Tagen am Bahnhof Cornavin verteilen. „Diese Stadt des Friedens empfängt Sie mit offenen Armen. Passen Sie gut auf sie auf.“
Draußen vor dem Bahnhof prangen die ersten Holzpalisaden an den Geschäften. Ein Hotel, ein Fastfoodrestaurant, ein Juwelier, eine Bank, ein Uhrengeschäft haben ihre Fassaden verschalt. Die Bürger von Genf fürchten um ihre Sicherheit. Seit Monaten kündigen ihre Medien „ausländische Schläger“ an. Der Polizeichef, der Armeechef und Regierungspolitiker haben den Gipfel und den Gegengipfel vorbereitet, als handele es sich um einen Bürgerkrieg. Die Nachbarländer, stark vertreten Deutschland, haben Polizeitruppen zur Verstärkung geschickt. Auf den nagelneuen Holzfassaden der Geschäftsleute sprießen die Sprüche. Der beliebteste: „G-8-illegal“. Gefolgt von „Das Kapital hat Angst“ und „Ihr seid acht – wir sind Milliarden“. In manche unverschalte Schaufenster haben Geschäftsleute Regenbogenfahnen gehängt. „Pace“ steht darauf. Eine Fahne ist billiger als eine Holzverschalung. Aber nicht immer genauso effizient.
In der Altstadt von Genf sind in der Nacht zum Sonntag mehrere Schaufensterscheiben zu Bruch gegangen. Selbst ernannte Radikale haben Steine geworfen. Ihre Ziele: ein Finanzamt und das Genfer Rathaus. Viele der jungen Radikalen kommen aus Deutschland und Italien. Von den großen Organisationen der Globalisierungskritiker trennen sie Welten. Die vor fünf Jahren gegründete Organisation für eine Besteuerung von internationalen Spekulationen, Attac und das „Forum für die Entschuldung“ gelten den jungen als „bourgeois“. Und als Vertreter des „Systems“. Sie aber wollen die Revolution.
In den Zeltlagern ihres Gegengipfels haben reformistische Globalisierungskritiker und Radikale separate eigene „Dörfer“ eingerichtet. Sie sind durch Holzsperren symbolisch getrennt. Bloß die Toilettenräume benutzt man gemeinsam. Drei Tage haben die Globalisierungskritiker gefeiert, demonstriert und über eine andere Welt diskutiert. In Annemasse, der Kleinstadt auf der französischen Seite, und in Genf. In ihren getrennten Zeltlagern und in den Kulturzentren, die die beiden sozialdemokratisch regierten Städte aufgestellt haben. Die Themen der Globalisierungskritiker stammen aus der Agenda der Gegenseite. Es sind die Folgen der Politik der sieben größten Industriestaaten und Russlands, die seit gestern in dem abgeriegelten französischen Ort Evian am anderen Ufer des Genfer Sees tagen.
Der Gegengipfel entwirft eine andere Welt. Er greift das auf, wobei die Mächtigen nach Ansicht ihrer Kritiker versagt haben: den Hunger in der Welt, an dessen Folgen täglich 100.000 Menschen sterben. Den Handel mit Waffen, von denen 90 Prozent aus den sieben größten Industriestaaten und aus Russland stammen. Die 100 größten multinationalen Konzerne, deren Umsatz ständig steigt, während die Zahl ihrer Beschäftigten stagniert oder sinkt. Die Privatisierungen der Dienstleistungen – vom Transport über die Gesundheit bis zur Schule – und die längst auch Europa erreicht haben. Und immer wieder die Schuldenlast, die den Süden erdrückt, und den Norden immer reicher macht.
Am Beispiel Brasilien rechnet ein Wirtschaftswissenschaftler dem Gegengipfel vor, wie diese Umverteilung zugunsten der reichen Länder funktioniert. „Allein in den vier Jahren von 1998 bis 2001 betrugen die Nettotransfers von Brasilien an die Banken des Nordens 70 Milliarden US-Dollar“, erklärt der Belgier Eric Toussaint vor dem „Schuldentribunal“ in Genf. Eine Sprecherin aus Ecuador setzt seine Analyse in angewandte Politik um. Bianca Chancoso sagt vor dem „Schuldentribunal“: „Wir sind die Mehrheit – wir Armen in der Welt. Wir zahlen die Schulden nicht.“ Der Saal tobt vor Freude. Die kleine Frau aus Ecuador, die mit dem Mund knapp bis ans Mikrofon reicht, ist eine der umjubelten Rednerinnen dieses Gegengipfels. Bianca Chancoso fordert die Gipfelteilnehmer zu weltweiten Aktionen gegen das nächste Treffen der Welthandelsorganisation im September in Cancun auf. Und dazu, den Politikern, die aus den eigenen Reihen hervorgegangen sind, besonders streng auf die Finger zu gucken. „Wir müssen jene, die gerade erst und mit großer Hoffnung vom Volk gewählt worden sind, davon abhalten, auf US-Kurs zu wechseln“, sagt sie. Alle im Saal verstehen, dass damit in Lateinamerika vor allem der brasilianische Präsident Lula gemeint ist. Er ist als Gast beim G-8-Gipfel auf der anderen Seeseite geladen.
Einige tausend Teilnehmer sind zu dem Gegengipfel gekommen. Ein Sonderzug hat 1.000 Leute aus Deutschland gebracht. Hunderte von Bussen spucken Spanier, Franzosen, Italiener und Briten aus. Es sind genug Menschen, um die Säle zu füllen. Aber weniger, als die Veranstalter, das Genfer Sozialforum (FSL), erwartet haben. Vor allem die Massen aus dem benachbarten Frankreich sind ausgeblieben. „Unsere wochenlangen Proteste gegen den Sozialabbau waren anstrengend“, haben sich manche Franzosen entschuldigt, „wir brauchen jetzt das lange Wochenende zum Ausschlafen.“
Am Sonntagmorgen, als zwei riesige Demonstrationszüge vom Osten und vom Westen her auf die französisch-schweizerische Grenze zumarschieren, sind die Franzosen doch wieder da. Beide Demonstrationszüge haben sich um 10 Uhr in Bewegung gesetzt. Der eine in dem französischen Kleinstädtchen Annemasse, der andere im Englischen Garten von Genf. An der Spitze der französischen Kolonne gehen Streikende, die eigens zur Demonstration zum Sondertarif angereist sind. An der Spitze der Schweizer Kolonnen gehen Vertreter des Südens, die seit Jahren für die Schuldenstreichung kämpfen. Auf beiden Seiten tragen viele Demonstranten eine Kette mit sich. Sie symbolisiert die Versklavung des Südens.
Im Innern der Demonstrationszüge gehen Kinder mit. Und alte Leute. Aber die Stimmung ist gespannt. Auf französischer Seite fehlen die prominenten Sozialdemokraten. Nachdem die PS unbedingt beim Gegengipfel dabei sein wollte, hat ihr Parteichef am Vorabend einen eiligen Rückzieher gemacht. Aus Angst vor den radikalen Gipfelteilnehmern, die am Nachmittag eine sozialdemokratische Veranstaltung gesprengt hatten. Nervosität herrscht auch auf Schweizer Seite. Da hat es am Sonntagmorgen erneut in Lausanne geknallt. Junge und vermummte Globalisierungsgegner haben versucht, die verbarrikadierten Luxushotels der Innenstadt zu erobern, wo einzelne Gäste des G-8-Gipfels untergebracht sind. Als das an der Polizei scheitert, plündern sie Supermärkte und setzen Autos in Brand. Nach stundenlangen Straßenkämpfen, bei denen die Globalisierungsgegner unter anderem Eier aus den Supermärkten als Wurfgeschosse einsetzen, fordern die Behörden von Lausanne die Bevölkerung auf, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Im Innern des Demonstrationszuges schimpfen viele. „Die Idioten kapieren nicht einmal, dass sie Vorwände liefern und die Repression noch verschärfen“, sagt, den Tränen nahe, eine Genferin.
Wie viele Demonstranten ist die Frau schon seit dem Morgengrauen auf den Beinen. Um 5 Uhr früh hat sie mit anderen Genfern begonnen, eine Barrikade auf der Coulouvrenière-Brücke zu bauen. Gleichzeitig sind drüben in Annemasse 2.000 Personen aus dem Zeltlager losgezogen, um eine Autobahn zu blockieren. In Genf hält die Brückenblockade bis zum frühen Vormittag. Auf der französischen Seite fließt der Verkehr auf der A 40 erst sieben Stunden später wieder. „Wir haben die Ankunft von mehreren Delegationen auf dem Landweg verzögert“, vermelden die Blockierer anschließend. In Evian, auf der anderen Seite des Sees, wo Staatspräsident Jacques Chirac zum selben Zeitpunkt seine Gäste begrüßt, sind freilich keine nennenswerten Abwesenheiten aufgefallen. Nach drei Tagen Gegengipfel und der großen grenzüberschreitenden Gegendemonstration von gestern, wird von heute an der offizielle G-8-Gipfel die Wahrnehmung des Geschehens am Genfer See beherrschen. Er wird sich unter anderem mit Themen befassen, zu dem auch der Gegengipfel Vorschläge gemacht hat.
Die meisten Demonstranten wollten noch in der Nacht abreisen. Nur einige Kommandos der radikalen Globalisierungsgegner wollen noch bis zum Ende des offiziellen Gipfels bleiben.
Wenn alles vorbei ist, wird sich Genf entschälen. Dabei winken erneut Aufträge, wie sie für Arbeiter aus dem Süden in der ruhigen Bankenstadt am See selten sind. Ein junger Mann aus Brasilien erzählt seiner Banknachbarin im Bus, dass er noch nie so viel verdient hat. 23 Schweizer Franken hat ihm der Zeitarbeitvermittler für die Verschalung gezahlt. Wo es sonst nur 17, bestenfalls 19 Franken die Stunde gibt. Diese Woche winkt der Folgeauftrag. „Ruf Montag wieder an“, hat der Zeitarbeitvermittler gesagt: „die Bretter müssen schließlich wieder weg.“
Der junge Brasilianer lacht: „Für mich ist der G-8-Gipfel gut.“