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Archiv-Artikel

Ruanda ist heute ein anderes Land als 1994

In zehn Jahren hat sich die ruandische Gesellschaft erheblich verändert. 30 Prozent der Bevölkerung sind nach dem Völkermord geboren, viele Menschen haben in anderen Ländern gelebt. Das beeinflusst den Blick auf die Geschichte

Die Frage des „ethnischen“ Wesens von Hutu und Tutsi stellt sich wenigerkontrovers dar, wenn man auf dieruandische Gegenwartssprache achtet

KIGALI taz ■ Nach dem Völkermord schaffte Ruandas neue Regierung die Nennung von „Hutu“ und „Tutsi“ in den Personalausweisen ab. Und den Geschichtsunterricht. Ruandas Kinder sollten nicht länger die frühere Staatsideologie von Tutsi als fremden Invasoren und Hutu als authentischen Ruandern lernen. Seitdem gibt es Geschichtskurse nur in den „Solidaritätslagern“, wo Studenten, entlassene Gefangene und demobilisierte Soldaten politische Bildung erhalten. Dort lernt man, dass Deutsche – die ersten Kolonisatoren – Ruanda in Hutu und Tutsi geteilt hätten.

Seit kurzem arbeitet das Bildungsministerium nun an neuen Geschichtsbüchern. „Wir brauchen das so bald wie möglich“, sagt Servilien Sebasoni, Berater des Sekretariats der regierenden Ruandischen Patriotischen Front (RPF). „Vielleicht mit einem kritischen Exposé der Punkte, zu denen es keine Einigkeit gibt.“ Ein zentraler Streitpunkt: Hat die ruandische Nation einen gemeinsamen Ursprung, wie es die traditionelle Überlieferung lehrt – oder sind Hutu, Tutsi und Twa getrennte Ethnien mit unterschiedlichen Ursprüngen, wie es die Kolonisatoren lehrten und wie auch das Völkermordregime meinte? Neuere Forschungen haben die These widerlegt, dass die Tutsi als Viehzüchter erst spät in ein zuvor von Hutu-Bauern besiedeltes Ruanda eingewandert seien und legen nahe, dass es schon immer ein Zusammenleben von Bauern und Viehzüchtern gab. Das Nationalmuseum in Butare plant weitere archäologische Forschungen zu diesem Thema.

Die „ethnische“ Frage stellt sich weniger kontrovers dar, wenn man auf die ruandische Sprache achtet. Den Begriff „Ethnie“ kennt das Ruandische gar nicht; der bis 1994 gebräuchliche Begriff „ubwoko“ zur Kenntlichmachung von Hutu, Tutsi und Twa heißt eigentlich Clan – und Ruandas historische Clans umfassen jeweils Mitglieder aller drei Volksgruppen. Schwieriger ist der Umgang mit dem Völkermord an sich. Die einen sprechen von den Ereignissen von 1994 als „Krieg“, die anderen als „Genozid“.

Der Blick auf die ruandische Sprache der Gegenwart lehrt auch, dass die Begriffe Hutu und Tutsi heute nicht mehr die soziale Realität widerspiegeln. Die Leute benutzen ganz neue Begriffe: „Abasopecya“, benannt nach der letzten noch funktionierenden Tankstelle während des Genozids, sind Völkermordüberlebende. Die nach 1994 aus dem Ausland zurückgekehrten ruandischen Tutsi, oft seit 1959 Vertriebene oder deren Nachkommen, gliedern sich in „Abadubai“ (Rückkehrer aus dem Kongo), „Abagepe“ (aus Burundi) und „Abasagya“ (aus Uganda).

Auch die Hutu sind geteilt: in solche, die Ruanda nie verließen und nie im Gefängnis saßen; Häftlinge; Flüchtlinge seit 1994; Rückkehrer aus Kongo seit 1996. Jede dieser Lebenserfahrungen hat bei den Leuten unterschiedliche Spuren hinterlassen und die Gesellschaft neu gemischt. Und nicht zuletzt: 30 Prozent der 8,4 Millionen Menschen, die heute in Ruanda leben, wurden nach Angaben der Regierung nach dem Völkermord geboren.

FRANÇOIS MISSER