„Im Inneren stimmt gar nichts“

Sowohl Täter als auch Opfer sind traumatisiert, sagt der Psychologe Simon Gasibirege. Doch er warnt: Befürworter des Völkermords sind noch aktiv

INTERVIEW FRANÇOIS MISSER

taz: Herr Gasibirege, der Völkermord ist jetzt zehn Jahre her. Heilt die Zeit die Wunden?

Simon Gasibirege: Viele Leute denken das, aber es stimmt nicht. Wenn die Menschen keine bewusste Trauerarbeit leisten, wird ihr Alltag ihre früheren Erlebnisse zudecken. Doch sobald es ein Problem gibt, bricht wieder alles heraus. Die Zeit heilt nicht.

Was könnte helfen?

Man muss den Leuten helfen, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Sie müssen trauern können. Trauerarbeit heißt, Gefühle wie Traurigkeit, Zorn, Angst, Hilflosigkeit, die einen im Griff halten, ausdrücken zu können, um sich allmählich von den Toten zu lösen und dann Stück für Stück wieder ein eigenes Leben aufbauen zu können. Je länger man diese Gefühle in sich einschließt, desto mehr Energie verwendet man darauf, sich gegen sie zu stemmen. Denn sie sind wie Gift. Meine Seminare dauern heute doppelt so lange wie noch vor vier Jahren, denn die Zeit hat kein Problem gelöst, im Gegenteil.

Wie äußert sich Traumatisierung bei den Tätern?

Ich mag den Begriff Trauma nicht. Man meint damit zumeist das äußere Verhalten: Die Leute fühlen sich verfolgt, sie sind depressiv, sie leiden an psychosomatischen Krankheiten, manche werden einfach verrückt. Mir geht es eher um das, was im Inneren passiert. Der Genozid war ein innerer Schock. Wer überlebt hat, versteht nicht, warum die anderen tot sind. Wenn er dann behauptet, er würde von Leuten mit Macheten verfolgt, nützt es überhaupt nichts, ihm zu sagen: Da ist doch niemand. Das spielt sich im Inneren ab, die Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt ist abgerissen.

Welche Auswirkungen werden die Gacaca-Gerichte auf die Überlebenden haben? Wird ihnen das helfen oder alte Wunden wieder aufreißen?

Ich sehe darin eine Chance. Gacaca [sprich: Gatschatscha] ist eine Bühne, wo jeder ausdrücken kann, was er erlebt hat, Überlebende ebenso wie die anderen; wo die Wahrheit gesagt, Gefühle gezeigt werden können. Und wenn die Leute erfahren, was passiert ist, wie genau die Menschen gestorben sind, wo sie begraben sind – das ist eine große Therapie. Gacaca ist also eine Chance, aber eine zweischneidige. Wenn man daraus neue Traumatisierungen zieht, wird es ein Unglück und drückt die Menschen noch tiefer in ihre Erlebnisse zurück. Es sind ja nicht nur die Überlebenden traumatisiert. Was geschehen ist, kann kein Mensch ertragen. Sicher, der Genozid richtete sich gegen die Tutsi, aber jeder Hutu, der das gesehen hat, trägt zerstörerische, vergiftende Bilder in sich. In meinen Seminaren führe ich verschiedene Gruppen zusammen: Überlebende, Flüchtlinge, Geständige, Uneinsichtige, Gebildete. Sie reden miteinander und merken, dass sie alle leiden.

Wie äußert sich Traumatisierung bei den Tätern?

Da gibt es vielleicht einen Unterschied. Ein traumatisierter Täter hat noch die Kraft, Wut auszudrücken, während ein Überlebender, der seine ganze Familie verloren hat, einfach traurig und deprimiert ist, keine Energie mehr hat.

Können Sie ein Beispiel schildern?

Im Gefängnis Butare gab es einen jungen Mann, der auf dem Gelände der medizinischen Fakultät Menschen getötet hatte und dafür ins Gefängnis Nyanza gesteckt worden war. Er war dort so aggressiv, dass er 14 Monate in Einzelhaft verbrachte. Dann wurde er ins Zentralgefängnis von Butare überstellt und kam in mein Seminar. Er war ein Störer, griff uns immer an. Sein Trauma war eine große Wut, gemischt mit verbaler Gewalt gegen jeden, der Regeln aufstellt. Aber nach dem dritten Seminar, als wir über den Umgang mit Gefühlen gesprochen hatten, wurde er versöhnlich, und schließlich ging er wie alle Geständigen in ein Dorf. Er sollte dort in Vorbereitung von Gacaca-Verfahren Informationen über Beschuldigte einholen. Und dann, als er ins Gefängnis zurückkehrte, ging er zu den Häftlingen aus dieser Gemeinde und sagte ihnen: Freunde, ihr müsst unbedingt zeigen, wo ihr die Leichen hingetan habt. Er nahm sie mit. Sie fingen an, die Leichen auszugraben. Als sie in die Nähe der Körper kamen, fingen sie an, sich gegenseitig aufzufordern, ganz vorsichtig zu graben, um niemanden zu verletzen. Es war ein Junge in der Nähe. An der allerersten Leiche erkannte er das Hemd seines Vaters. Er fing an zu weinen, zu schreien, zu brüllen. Die anwesenden Offiziellen fragten unseren jungen Mann: Kennst du den Jungen? Er sagte: Nein. Sie fragten: Was ist denn los? Er sagte: Ich habe ihm geholfen zu weinen, so wie er mir geholfen hat zu weinen.

Also ist Versöhnung möglich?

Ich sehe Versöhnung in Ruanda anders als im Westen. Für uns ist Versöhnung zunächst einmal Mitleid, das Verstehen des Leidens des anderen, das gemeinsame Leiden und das gegenseitige Anerkennen durch dieses gemeinsame Leiden.

Oft sagen Überlebende aber: Wieso soll ich vergeben? Soll doch erst mal mich jemand um Vergebung bitten!

Das ist wahr. Die Überlebenden brauchen Erklärungen. Der schuldig gesprochene Häftling bittet also den Überlebenden um Vergebung. Der wird fragen: Was hast du gemacht, wie konntest du das tun? Dann muss der Häftling antworten. Das ist nicht leicht. Es gibt viel Wut dabei. Die Häftlinge sagen: Ja, beim ersten Mal beschimpfen sie uns, beim zweiten Mal sind sie neugierig, beim dritten Mal können wir reden.

Es gibt aber Orte, wo sich Täter und Opfer aus dem Weg gehen und nicht einmal grüßen.

Grüßen Sie Ihren Feind? Das ist doch klar. Wenn jemand Ihre Mutter getötet hat und nicht einmal bereit ist zu sagen, wo sie begraben liegt, wird Ihre Wut nicht verschwinden. Es geht auch nicht nur um die Überlebenden. Viele Leute haben vom Genozid profitiert, Geschäfte gemacht. Oder wenn Sie jemanden gebeten haben, Sie zu verstecken, und er sich weigerte, und jetzt leben Sie noch, wird er Ihnen nicht in die Augen blicken können. Mit der Arbeit der Kirchen und der Regierung gibt es eine gewisse Beruhigung. Die Leute gehen gemeinsam auf Feste. Aber vom Genozid sprechen sie dabei nicht. Es gibt ein äußeres Zusammenleben, aber im Inneren stimmt nichts.

Erschweren nicht Vorfälle wie im Februar, als in Gikongoro Zeugen der Massaker von überlebenden Tätern ermordet wurden, die Versöhnung?

Ich war selbst in Gikongoro. Ich habe den Ermittlungsrichter getroffen und Leute interviewt. Die Überlebenden fühlen sich bedroht. Es gibt Verbrecher, die sich versteckt haben und sich jetzt organisieren. Denn es gibt in Ruanda jetzt Sicherheit, der Staat hat ein wenig die Zügel gelockert und passt nicht mehr so genau auf. Und man darf nicht vergessen, dass zehntausende Häftlinge freigekommen sind, zehntausende Exsoldaten und Exmilizionäre aus dem Kongo zurückgekommen sind. Alle Milizionäre, die demobilisiert wurden, leben jetzt auf den Hügeln zusammen mit den anderen Leuten. Und gewisse Personen, die immer noch denken, man müsse den Genozid noch vollenden, organisieren sich. Ich denke, dass 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, man könne dieses Land nur per Völkermord regieren. Mindestens ein Drittel denken in ethnischen Kategorien und arbeiten dementsprechend in der Bevölkerung.

Woher wissen Sie das?

Durch meine Forschungen. Ich bin dreimal kreuz und quer durch Ruanda gereist, um eine Studie über die Haltung der Ruander zu Gacaca zu machen. Letztes Jahr begleitete ich dafür ein Team der katholischen Kirche. Da habe ich gemerkt, wie die Meinungen gelagert sind. Von den 11.000 Häftlingen im Gefängnis von Butare sind 6.000 bis 7.000 davon überzeugt, dass sie „die Arbeit“ – den Völkermord – nicht zu Ende geführt haben. Und manche Geständige haben jetzt Angst vor einigen Bereichen in der Anstalt, weil sie dort bedroht werden. Die klügsten unter den Uneinsichtigen wissen, dass sie in der heutigen Gesellschaft keine Chance haben. Der Staat ist stärker als sie. Sie arbeiten geduldig im Inneren der Gesellschaft.

Welche Rolle spielt die Weltgemeinschaft für die Versöhnung in Ruanda? Die UN-Blauhelme zogen damals aus Ruanda ab, statt den Opfern zu helfen. Spielt das heute eine Rolle?

Das Problem ist, dass die Ausländer denken, sie müssten Partei ergreifen – entweder für die Tutsi oder für die Hutu. Das ist für uns wirklich ein Unglück. Der Genozid hat niemanden verschont. Viele Ausländer denken einfach: Die Hutu haben getötet, die Tutsi wurden umgebracht. Also identifizieren sie sich mit der einen oder anderen Seite. Das ist die alte ethnisch-tribalistische Sichtweise aus dem 19. Jahrhundert. Also wie können uns solche Leute helfen? Sie müssen Vermittler zwischen den Ruandern sein, um ihnen zu helfen, einander zu verstehen. Sie müssen aufhören, alles zu verallgemeinern und die ethnische Brille ablegen.