Debatte: Tierschutz in der Landwirtschaft : Stillstand – bis zum nächsten Skandal
„Der nächste Skandal zeichnet sich bereits ab. Das Verfassungsziel Tierschutz verkommt zum Lippenbekenntnis“
Noch vor Kurzem schien sich die landwirtschaftliche Tierhaltung zum Besseren zu entwickeln: Das Bundesverfassungsgericht erklärte die damalige „Verordnung zum Schutz von Legehennen bei Käfighaltung“ als nicht mit dem Tierschutzgesetz vereinbar. 2001 nahm der Landtag mit den Stimmen aller Fraktionen den Tierschutz in die Landesverfassung auf, ein Jahr später gelangte er als Staatsziel im Grundgesetz.
Doch die Halbwertzeit politischer Aussagen – „weg von den Agrarfabriken“ – ist kurz und die Aufbruchstimmung verflogen. Ob bei Schweinen, Hennen, Puten: Nahezu jeder politische Anlauf für auch noch so geringe Verbesserungen der Tierhaltung erfährt wieder kräftigen Gegenwind. Bauern- und Tiererzeugerverbände, unterstützt von CDU, FDP und auch großen Teilen der SPD, sehen darin unzumutbare Wettbewerbsverzerrungen für die NRW-Landwirtschaft. Die heimischen Agrarfabrikanten, so ihre Sorge, würden in Nachbarländer abwandern; Verbesserungen dürften daher nur EU-einheitlich oder gar nicht erfolgen. Miserable Haltungsbedingungen werden somit zum Standortfaktor erkoren: Die gleichen Politiker, die dem Tierschutz Verfassungsrang einräumten, diffamieren die begrüßenswerten NRW-Regelung zur Schweinehaltung als ,Kuschel-Erlass‘.
Und es geht noch schlimmer: Für die 1,5 Mio. Mastputen in NRW gibt es jenseits des Tierschutzgesetzes keinerlei rechtliche Mindeststandards. Die Ställe sind allesamt zu eng, es fehlt an Auslauf und nahezu allen Puten werden die Schnäbel gekürzt. Die Tiere entstammen extrem schnellwüchsigen Zuchtlinien und erreichen ein Gewicht, das die eigenen Beine kaum noch tragen können. Der begehrte Brustmuskel macht bis zu 40 Prozent des Körpergewichts aus. Der nächste Skandal zeichnet sich ab. Das Verfassungsziel Tierschutz verkommt hier zum Lippenbekenntnis.
Auch hierzulande sollen Umwelt- und Sozialstandards aufgeweicht werden. Ein fatales Szenario: Die nordrhein-westfälischen Landwirte werden niemals über den Preis auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein. Es wird immer Anbieter geben, die noch billiger produzieren. Die Chance liegt daher eben nicht in Billigfleisch, sondern in der Qualität: tiergerechte Haltung ohne massenhaften Einsatz von Antibiotika, gentechnikfreie Produktion, klare Kennzeichnung und eine konsequent hierauf ausgerichtete Werbung der Centralen Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) – statt deren zumeist belanglosen Anzeigenkampagnen. Der Bauernverband hat mit seiner Politik diese Perspektive offenbar längst aufgegeben – und damit die Existenz vieler bäuerlicher Betriebe.
Nordrhein-Westfalens grüne Landwirtschaftsministerin Bärbel Höhn muss ihrer Berliner Kollegin und Parteifreundin Renate Künast Dampf machen, mit einer tiergerechten Verordnung zur Putenhaltung dem Thema neuen Schwung geben. Hierbei muss NRW mit einem Erlass beispielhaft vorangehen. Gleiches gilt für die Pelztierhaltung: Die erbärmlichen Zustände in den zehn Pelztierfarmen sind seit Jahren bekannt, der Erlass des Landes wird von Betreibern und örtlichen Tierschutzbehörden beharrlich ignoriert. Ministerin Höhn verweist auf die Bundesministerin Künast – doch deren Verordnungsentwurf zur Haltung von Pelztieren liegt seit über einem Jahr auf Eis.
RALF BILKE