Im Kino, in Trance

Jean Rouch bereitete die Nouvelle Vague vor, war Feldforscher in afrikanischen Steppen und Pariser Wohnzimmern, und er ließ die Kamera das Geschehen nicht nur abbilden, sondern auch hervorbringen. Das Arsenal widmet dem im März verstorbenen Filmemacher eine Retrospektive

VON ANDREAS BUSCHE

In eine dreijährige Schaffensperiode zum Arbeiten und Träumen entließ Jean Rouch 1992 die Hauptfiguren seines Films „Madame L'Eau“. Ein Jahr mussten die drei Bauern auf die holländischen Architekten warten. Windmühlen sollten sie ihnen bringen, damit der existenzgefährdende Zyklus aus Dürre und Überschwemmung durchbrochen würde. Als die Fachleute aus Holland schließlich im Niger eintrafen, wurde für die Männer eine Vision Wirklichkeit. Gemeinsam mit den weißen Helfern – und nicht mehr für den Kolonialherrn – errichteten sie im Niger die erste Windmühle und führten so ihren Feldern wieder das dringend benötigte Wasser zu. Danach blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. Arbeiten und davon träumen, dass für die verarmte Region bessere Zeiten anbrechen.

Arbeiten und Träumen – beides trifft auf die Filme Jean Rouchs zu: die mühsame Arbeit des Ethnografen und der poetische Zauber alltäglicher Verrichtungen. Nicht „das Fremde“ per se faszinierte an seinen ethnografischen Filmen, von denen er zu Lebzeiten an die 150 Stück produziert haben soll, sondern wie vorbehaltlos er sich den Menschen näherte – ohne den geringsten Unterschied zu machen zwischen afrikanischem Hohepriester und Pariser Hausfrau. Diese Offenheit war zunächst der technischen Entwicklung geschuldet, die es ihm ab Ende der Fünfzigerjahre ermöglichte, mit Handkamera und Mikrofon unmittelbar am Geschehen teilzunehmen (womit er nebenbei auch das wichtigste Stilmittel der Nouvelle Vague in die Filmgeschichte einführte).

„Partizipierende Kamera“ war der Begriff, den Rouch für diese Art des Filmemachens geprägt hatte. Aber noch viel entscheidender war seine persönliche Definition dieses Arbeitsmodus, in dem „die Kamera genauso lebendig werden sollte wie die Menschen, die sie filmte“. Mensch und Kamera. Rouch und die Menschen. Die Apparate vergessen machen. Rouch wusste, dass seine Kamera nicht nur Realität abbilden konnte, sondern auch produzieren würde. In diesem Zwischenzustand der „Cine-Trance“ entstand ein Kino voll Unberechenbarkeit – bei gleichzeitig großer erzählerischer Geschlossenheit. Denn es handelte von Menschen. Und Mikrodramaturgien. Jedes Ritual, hat Rouch einmal gesagt, besitze eine in sich geschlossene Dramaturgie. Die gewaltigste hat er zwischen 1967 und 1974 zusammen mit der Ethnologin Germaine Dieterlen geschaffen: den zehnteiligen Sigui-Zyklus der Dogon, eine rituelle Schöpfungsgeschichte über einen Zeitraum von sieben Jahren, die das westliche Vorstellungsvermögen bezüglich des afrikanischen Kontinents schlichtweg sprengte.

Das Arsenal zeigt im April vier dieser Filme sowie zwei weitere aus der übergreifenden „Rituale der Dogon“-Reihe im Rahmen einer kleinen, Jean Rouch gewidmeten Retrospektive. Rouch starb am 18. Februar dieses Jahres im Alter von 86 Jahren, und mit der Werkschau gibt das Arsenal dem großen Mann des ethnografischen Films (eine „barbarische Bezeichnung“ hat er diese Wortkonstruktion einmal genannt) das letzte Geleit.

Im Mittelpunkt stehen neben den sechs „Dogon“-Filmen vor allem Rouchs Arbeiten aus den Achtzigern. Die Theaterverfilmung „Folie Ordinaire d'une Fille de Cham“ („Der gewöhnliche Wahnsinn der Tochter Hams“) fällt in diese Phase, eine fast unerträgliche Auseinandersetzung mit den tief greifenden Folgen des kolonialen Rassismus. Oder der wundersame „Enigma“, Rouchs vielleicht fiktionalster und zugleich unergründlichster Film. Und natürlich die Musical-Komödie „Boulevards d'Afrique“ („Afrikanische Boulevards – Abitur oder Ehe“), in der er sich wie in seinen Ritualfilmen von den Rhythmen der Musik, in diesem Fall des High Life der senegalesischen Jugend, treiben lässt.

Aber es waren nie billig erschlichene Verzauberungen, denen Rouch anheim fiel. Schon in frühen Interviews äußerte er sich skeptisch über die Schönheit des Exotismus, dem viele filmende Kollegen seines Alters in die Falle gegangen waren: „Schöner Fotografie bin ich stets mit unverhohlenem Misstrauen begegnet. Es bedeutet meistens, dass nichts dahinter steckt. Nur eine schlechte, hässliche Einstellung ist ein Garant für Authentizität.“

Auch in anderer Hinsicht hat sein Werk Großes geleistet. Es ermöglichte nicht nur einen sehr genauen Blick auf bis dahin unbekannte Kulturen; der Blick fiel in seinen Filmen auch immer wieder auf den Betrachter selbst zurück. Das sei, so Rouch, das Wesen von guter, richtiger Ethnografie. Ethnografie als ein „beobachtendes System“. Das eigene Verhalten wird automatisch Teil der Beobachtung: Film gewordene Systemtheorie. Ein nicht ganz schmerzfreier Blick.

In Rouchs Nouvelle-Vague-Klassiker „Petit à petit“ (1968) kehrte ein afrikanischer Architekt bei einem Besuch in Paris die Hegemonialverhältnisse um, indem er sich kurzerhand die Vermessungswerkzeuge des ehemaligen Kolonialherrn aneignete. Und die drei Bauern aus „Madame L'Eau“ werden bei ihrem Besuch in Holland schließlich mit der kolonialen Vergangenheit ihrer freundlichen Gastgeber konfrontiert. Zivilisation ist nur ein Konstrukt. „Ich habe“, erzählt einer der holländischen Wissenschaftler, „mit neun Jahren erlebt, wie hunderte von Menschen ermordet wurden. Was ist daran zivilisiert?“ Jean Rouch hat diese Unterschied nie gemacht, weder in seinen Filmen noch im Leben. Bei Freunden war er für seinen halsbrecherischen Fahrstil berüchtigt. Er wurde ihm zum Verhängnis. Rouch starb bei einem Autounfall. Es ist schwer vorstellbar, dass er anders zu bremsen gewesen wäre.

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