steffen grimberg : Das Fazit des „New York Times“-Exchefs: „Jede Veränderung ist eine potenzielle Gefahr“
Weil der Autor Jayson Blair seine Reportagen in der „New York Times“erfunden hatte, musste Chefredakteur Howell Raines gehen. Er stand für die Erneuerung der Institution – und betreibt nun ihre Demontage
Was passiert, wenn eine Zeitung einerseits an ihren Traditionen festhalten will, sich andererseits aber tunlichst verändern muss, um smarter, lebendiger und begehrter bei einer heterogenen, landesweiten neuen Leserschaft zu werden? Es kann zumindest die versammelte Chefredaktion den Kopf kosten. Damit keine dummen Missverständnisse aufkommen: Hier ist die Rede von der New York Times und Howell Raines, der im Zuge des Jayson-Blair-Skandals im Juni 2003 gehen musste.
Blair hatte dem Blatt über Monate vorgegaukelt, als Reporter Geschichte um Geschichte heranzuschleppen, war aber in Wahrheit nicht mehr aus den vier Wänden seines New Yorker Apartments herausgekommen, wo er sich ausdauernd die Nase puderte und sich bei laufendem Fernseher über Begebenheiten informierte, über die zu berichten er vorgab. Weite Teile seiner Artikel waren daher auch nicht selber recherchiert, sondern aus anderen Blättern abgeschrieben.
Formal wurde Raines entlassen, weil im Fall Blair interne Kontrollen der NYT-Redaktion komplett versagt hatten und der Chefredakteur letztendlich die Verantwortung trug. Auf mehr als vier Seiten berichtete die führende Zeitung der USA detailliert in eigener Sache, auf Anordnung von Raines übrigens, der sich gegen jede Beschwichtigungsstrategie zur Schadensbegrenzung und für eine totale Offenheitsoffensive aussprach.
Ähnlich offen legt Raines jetzt auf immerhin 22 Seiten im US-Magazin Atlantic Monthly nach. Nicht so sehr die Episode Blair, sondern die Reformunwilligkeit einflussreicher Redakteure hätten für seinen Abgang gesorgt, schreibt der Pulitzer-Preisträger, der über 25 Jahre bei der NYT gearbeitet hat. „Wir glaubten, dass das Blatt nur dann langfristig überleben kann, wenn es seine journalistische Qualität verbessert – von der erstarrten Seite 1 bis zu den vernachlässigten ‚weichen‘ Seiten im hinteren Teil.“
Doch die NYT-Kultur bringe es mit sich, so Raines, dass „jede Veränderung, egal wie positiv sie scheinen mag, als potenzielle Gefahr begriffen wird“.
Die Personalführung sei unaufrichtig: „Großartige Arbeit bekommt die Anerkennung, die ihr zusteht. Aber auch Routineleistungen werden bei der Times als exzellent gelobt, und schlampige Arbeit wird als ausreichend akzeptiert.“
Raines hat es geschafft, den Puls der bedächtigen NYT-Redaktion auch über den 11. September 2001 hinaus (der dem Blatt übrigens gleich sieben Pulitzerpreise einbrachte) schneller schlagen zu lassen. Doch zu viele, so Raines’ etwas sehr durchsichtige Lesart, hätten ihre Energien aber offenbar darauf beschränkt, gegen ihn zu arbeiten: „Als Jayson Blairs Verfehlungen herauskamen, hatte ich keinen Kredit mehr, auf den ich aufbauen konnte.“