: Morden bis Feierabend
Jean Hatzfeld hat Überlebende der Massaker in Ruanda befragt: „Nur das nackte Leben“
Es gibt Erlebnisse, die sich nicht in ein paar dürren Sätzen zusammenfassen lassen. Die Geschichten von Völkermordüberlebenden aus Ruanda, die der französische Journalist Jean Hatzfeld in seinem 2000 in Frankreich und jetzt auf Deutsch veröffentlichten Buch „Nur das nackte Leben: Berichte aus den Sümpfen Ruandas“ gesammelt hat, sind zutiefst erschütternd und verstörend. Man versteht, warum Hatzfeld in seinem Vorwort darauf hinweist, dass sich Überlebende des Völkermordes oft danach sehnen, zu schweigen. Für das, was sie durchlebt haben, gibt es keinen gemeinsamen Erfahrungshorizont mit anderen mehr.
Hatzfeld hat dennoch Überlebende zum Reden gebracht, in Nyamata, einer Kleinstadt im staubigen, windigen, von sumpfigen Flusstälern durchsetzten Südosten Ruandas, wohin Ruandas Hutu-Regime früher gerne Tutsi aus anderen Landesteilen umsiedelte und wo während des Genozids 50.000 der 59.000 Tutsi umgebracht wurden. Er hat sich von Jeannette Ayinkamiye erzählen lassen, wie sie sich mit ihrer Familie vor den Mordmilizen der Interahamwe in den Papyrussümpfen zwischen Schlangen und Mücken versteckte, bis die Milizen sie fanden und mit Macheten auf sie einhackten.
Drei Tage lang lag Jeannettes Mutter im Sterben. „Ich konnte wegen der Angriffe der Interahamwe nie lange bei ihr bleiben. Ich sah, dass es mir ihr zu Ende ging ... Am dritten Tag konnte sie nichts mehr zu sich nehmen, nur noch ein paar Worte wimmern und uns anschauen. Die Augen hat sie dann nicht mehr geschlossen. Heute träume ich oft von ihr, sehe sie in einer bestimmten Szene mitten in den Sümpfen vor mir: Ich blicke ihr ins Gesicht, höre ihre Worte und gebe ihr zu trinken, aber das Wasser erreicht ihre Kehle nicht mehr, fließt schon von ihren Lippen zur Seite weg. Da beginnt die Jagd der Verfolger wieder, ich springe auf und laufe. Als ich wieder zu dem Morast zurückkehre, frage ich die Leute nach meiner Mama, aber als meine Mama kennt sie keiner mehr.“
Vierzehn Zeugnisse hat Hatzfeld gesammelt, jedes einzigartig. Jenseits des Horrors wird etwas deutlich, was man heute leicht vergisst, wenn vom schnellsten Genozid der Weltgeschichte die Rede ist: Das Morden zog sich quälend lange hin, und niemand konnte sicher sein, ob es jemals enden würde. Jeder, der hier erzählt, rechnete fest mit dem eigenen Tod. Die Milizen arbeiteten geduldig an einem Tutsi-freien Ruanda, methodisch, siegessicher und ohne Hast, mit festen Arbeitszeiten.
Die Tutsi, die sich in die Sümpfe und Wälder flüchteten, wussten, dass die Mörder um 16 Uhr Feierabend hatten und ins Dorf zurückgingen. Dann konnten sie sich aus dem Schlamm erheben und nachsehen, wessen Leichen heute herumlagen. Sie lebten wie gejagte Tiere, erinnert sich Innocent Rwililiza. „Wir suchten beim kleinsten Geräusch das Weite, wir lagen auf dem Bauch und durchwühlten das Erdreich nach etwas Maniok, die Läuse fraßen uns und wir starben unter den Hieben der Macheten wie Ziegen auf dem Markt. Wir sahen Tieren ähnlich, denn wie Menschen, die wir einmal gewesen waren, sahen wir nicht mehr aus, und sie hatten es sich eben angewöhnt, uns als Tiere zu betrachten.“
Und er fügt hinzu: „Wenn die Hutu es weniger darauf abgesehen hätten, sich persönlich zu bereichern, hätten sie es tatsächlich geschafft, alle Tutsi im Lande auszulöschen. Unsere Überlebenschance hat darin gelegen, dass sie viel Zeit damit vergeudeten, Wellbleche abzubauen, die Häuser zu plündern und sich über die Teilung der Beute zu streiten.“
Die eindringlichen Porträtfotos, die Raymond Depardon von Hatzfelds Gesprächspartnern machte, sind zum Glück auch in der deutschen Ausgabe enthalten. Dadurch bekommen die Geschichten ein Gesicht. Weniger glücklich ist ein vollkommen überflüssiges Nachwort des Verlegers und Psychoanalytikers Hans-Jürgen Wirth, der erklärt, dass dies ein erschütterndes Buch ist und dass Völkermordüberlebende traumatisiert sind. Einen ähnlich gekünstelten Nachgeschmack hinterlässt die Eigenart der Übersetzung, das französische Wort tueur nicht mit Mörder oder Killer wiederzugeben, sondern mit „Totmacher“, so als wollten die Leute die Dinge nicht einfach beim Namen nennen – wobei es gerade das ist, was sie besser tun als jeder andere. Man kann nur hoffen, dass die deutsche Übersetzung des zweiten Bandes von Hatzfelds Ruanda-Zeugnissen – „Une saison de machettes“, das Geschichten von Tätern wiedergibt und im Herbst erscheinen soll – solche Fehler vermeidet.
DOMINIC JOHNSON
Jean Hatzfeld: „Nur das nackte Leben. Berichte aus den Sümpfen Ruandas“. Psychosozial Verlag, Gießen 2004, 251 Seiten, 19,90 Euro