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Archiv-Artikel

Die offenen Gräber des Irak

„Folter gehörte für uns zum Alltag wie für andere frisches Wasser“„Saddam hat den Irak in einen riesigen Friedhof verwandelt“

aus Bagdad INGA ROGG

Eine vornehme Stadtvilla am rechten Tigrisufer. Träge fließt das graubraune Wasser, ein paar Jugendliche gönnen sich in der Mittagshitze ein Bad. Türkisfarben erhebt sich zwischen den Häuserzeilen am gegenüberliegenden Ufer die Kuppel der Moschee von Abu Hanifa, des Begründers einer der großen Rechtsschulen des Islam. Fern scheint hier das von Diktatur, Vernachlässigung und Armut und Krieg gezeichnete Bagdad. Die friedliche Szenerie löst sich wie ein Trugbild auf, sobald man den Hof der Villa betritt. Trauben von Menschen drängen sich hier um Listen, die an den Wänden aufgehängt sind. Sie enthalten die Namen von Gefangenen, die während der Diktatur hingerichtet wurden. An einem Schreibtisch, der die Eingangstür versperrt, notiert ein Schreiber Suchaufträge.

„Es war im Hochsommer vor 20 Jahren“, sagt Wisam Qasim Mehdi, einer von denen, die hier der Geschichte der Toten ihrer Familie auf der Spur sind. Mitten in der Nacht tauchten Männer in Uniform bei der Familie auf. Sie nahmen seinen Vater mit. Was in dieser Nacht geschah, verstand der damals Vierjährige erst viel später. Die Staatssicherheit hatte in derselben Nacht den Vater und zwei Onkel wegen angeblich staatsfeindlicher Umtriebe festgenommen. Vier Cousins des Vaters waren kurz zuvor hingerichtet worden. Während die beiden Onkel nach einiger Zeit freikamen, blieb der Vater in Haft. Zurück blieben drei verstörte Kleinkinder und die Mutter, mit 17 Jahren selbst noch fast ein Kind.

Immer wieder sprach die Mutter bei den verschiedenen Sicherheitsdiensten vor, um Auskunft über das Schicksal ihres Mannes zu erhalten. Sie bezahlte Bestechungsgelder, schickte Mittelsmänner mit guten Kontakten zur Baath-Partei – es half nichts, die Spur des Vaters war unauffindbar. Bis vor vier Wochen. Da fand Wisam seinen Namen auf einer der Listen, die das „Komitee der freien Gefangenen“ zusammenstellt. Zusammen mit zwölf weiteren Gesinnungsgenossen war Qasim Mehdi wenige Tage nach seiner Festnahme hingerichtet worden. Eine Gerichtsverhandlung hatte es nicht gegeben. Alle waren sie Schiiten, die mit dem islamischen Dawa („Der Ruf“, siehe Kasten) sympathisierten und aus Balad, einem Ort 80 Kilometer nördlich von Bagdad, stammten.

In Balad hatten Dawa-Anhänger 1981 ein Attentat auf Saddam Hussein geplant. Das Komplott flog auf, und in einer Strafaktion wurden 359 Bewohner ermordet, darunter 52 Kinder. 95 Familien wurden an die saudisch-irakische Grenze deportiert, ihre Häuser zerstört und das Ackerland verwüstet. Verbannung war im Irak der Baath-Partei ein beliebtes Instrument, um vor allem den kurdischen und schiitischen Widerstand in Schach zu halten.

All die Jahre habe er auf den Tag gewartet, an dem er seinen Vater kennen lernen würde, sagt Wisam. Immer wieder habe er sich mit seinen Geschwistern die Begegnung ausgemalt. Und jetzt – er sei trotz der schrecklichen Todesnachricht auch erleichtert, erleichtert, endlich Gewissheit zu haben.

Um einen notdürftig aus Eisenstücken und einer Tafel zusammengebauten Tisch kauern drei Männer und sortieren die Stapel von Kladden, die sich um sie herum türmen. Keiner von ihnen hat eine besondere Schulbildung. „Wir tun das für die Angehörigen“, sagt Jazem Hamid, dessen Kleidung seine ärmliche Herkunft verrät. „Sie haben ein Recht zu erfahren, was geschehen ist.“ Vier Jahre war der 42-jährige Tagelöhner im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib im Westen von Bagdad inhaftiert. Gegen den Schiiten aus dem Bagdader Ortsteil Kadhimiya lag nichts vor. Aber einige seiner Angehörigen wurden verdächtigt, Dawa-Mitglieder zu sein. Auspeitschung mit schweren Elektrokabeln, stundenlanges Aufhängen an den Armen, Elektroschocks, Scheinhinrichtung – jegliche Folter, die man sich vorstellen könne, habe er ertragen müssen, sagt Jazem Hamid. „Folter gehörte für uns zum Alltag wie für andere frisches Wasser“, fährt er mit ruhiger Stimme fort. Seine Peiniger kamen nachts, in aller Hergottsfrüh oder während der Siesta. Nur eines war sicher: Sie kamen, und das monatelang. Nur der Glaube habe ihn gerettet, sagt der Vater von acht Kindern. Nach ein paar Monaten wurde er vom Revolutionsgerichtshof zu lebenslanger Haft verurteilt. „Es war, als zöge man ein Los“, sagt er. „Die eine Hälfte zu lebenslänglich, die andere zum Tode verurteilt.“ Plötzlich unterbricht er das Gespräch, steht auf und beginnt unruhig die Räume abzugehen.

5,1 Millionen Dossiers von politischen Gefangenen, die von 1976 bis zum Ende der Diktatur verfolgt, verschleppt, inhaftiert, gefoltert oder hingerichtet wurden, hat die Gefangenenorganisation zusammengetragen. Im ganzen Haus stapeln sich die Aktenberge, selbst das Badezimmer wurde zum Zwischenlager umfunktioniert. Fünf, zehn, manchmal bis zu fünfzig Namen stehen auf den Kladdendeckeln. Vier Seiten nur umfasst die Akte von Sajida Asghar Akbar aus Kirkuk. Die Angaben zur Person und ein angebliches Geständnis reichten dem Richter, um den Hinrichtungsbefehl für die Studentin zu unterschreiben.

Nur 6.000 Gefangene seien in Einzelprozessen abgeurteilt und in separaten Gräbern bestattet worden, sagt ein Sprecher. Die anderen erhielten, wenn überhaupt eins, ein Gruppenverfahren und wurden in Massengräbern verscharrt. Täglich werden neue „Killing Fields“ entdeckt, ein Ende ist nicht abzusehen.

Es brauchte nicht viel, um in die Fänge von Saddams Häschern zu geraten. Für die Fayli-Kurdin Widat Saleh genügte es, dass sie der falschen Ethnie angehörte. Wegen ihres Glaubens erklärte das irakische Regime die schiitischen Fayli-Kurden, aus deren Kreis eine Reihe wohlhabender Bagdader Geschäftsleute stammte, Anfang der 80er-Jahre kurzerhand zu Iranern. Tausende mussten das Land verlassen, ihr Besitz wurde konfisziert. Während der Haft brachen die Folterer Widat zwei Rippen. Das Schlimmste sei jedoch gewesen, dass ihr Bruder mit ansehen musste, wie sie geprügelt und als Schlampe beschimpft wurde, sagt die 45-Jährige. Widat ist kein Einzelfall. Landauf, landab hat das Regime Frauen in Sippenhaft genommen und sie in Gegenwart von männlichen Angehörigen gefoltert.

„Die Verbrecher müssen bestraft werden“, nimmt Jazem Hamid, der Mann, der die Akten der Gefangenen sortiert, später das Gespräch wieder auf. Das könne nur ein Scharia-Gericht leisten, meinen er und seine beiden Kollegen, weil nur so Racheakte unterbunden werden können. Die finden indes längst statt. Es vergehe kaum eine Nacht, in der nicht Leichen von ehemaligen Schergen des Regimes abtransportiert werden, sagt ein Kenner der in Sadr City umbenannten Saddam-Stadt. Nach Jahren der Rechtlosigkeit und Willkür findet sich im Irak freilich kaum jemand, der daran wirklich Anstoß nimmt. Zugleich erschwert der fehlende Konsens unter Saddams Gegnern über die künftige juristische Auseinandersetzung mit den Gräueln der Diktatur, die Tätigkeit der Gefangenenorganisation. Sie ist stark von schiitischen Islamisten dominiert. Viele säkular eingestellte Mitarbeiter haben ihr deswegen mittlerweile den Rücken gekehrt.

„Saddam hat den Irak in einen riesigen Friedhof verwandelt“, sagt Wisam Qasim Mehdi. Wie bei vielen Kinder von Regimeopfern ist das Schicksal des Vaters längst untrennbar mit seinem eigenen verknüpft. „Nun stehen wir vor den offenen Gräbern. Was sollen wir tun? Wir müssen damit fertig werden und sehen, wie wir unsere Lehren ziehen und weiterleben können.“