: Ein Schüler schlägt sich durch
aus Berlin BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA
Sechs Lehrer rennen hinter drei Jugendlichen her. Durchs Schultor, am Zaun entlang, vorbei an gepflegten Vorgärten. Einer der Lehrer hat auf dem Schulhof einen Schlag auf den Kopf bekommen, vier weitere Kollegen sind verletzt zurückgeblieben. Mehrmals halten die Jungen an, einer brüllt Beschimpfungen, die Lehrer bleiben ebenfalls stehen, halten Abstand. Die Verfolger haben Angst vor denen, die sie verfolgen.
Wenn heute das Amtsgericht Berlin-Tiergarten verhandelt, wird es darum gehen, was auf dem Schulhof Anfang April geschah. Angeklagt wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung ist einer der drei Jugendlichen. Sawis J., 16 Jahre alt. Ein Schüler, über den seit Wochen Berliner Politiker und Polizeiexperten diskutieren. Das Gericht wird über ihn urteilen, aber es wird auch ratlos sein. Wie alle.
An der Tür klebt eine Warnung. Ein rot umrandetes Dreieck mit einem muskulösen Oberkörper signalisiert: Achtung, hier wohnt ein Bodybuilder. Hinter der Tür hängen an den Wänden Poster von „The German Beast“, einem 125-Kilo-Mann mit einem Kreuz wie ein Schrank, Oberarmen und Oberschenkeln, die wie aufgepumpt aussehen. In einer Schrankwand steht unter einer Taekwondo-Urkunde eine Sammlung von Karten und Briefen mit Liebesgrüßen. „So jemand Wertvolles wie dich“, heißt es inmitten von bunten Herzchen. „Sawis und Irene – Für immer und ewig“.
Sawis J., der sich körperlich seinem Vorbild angenäher hat, hat sein Zimmer seit Wochen nicht mehr betreten. Er sitzt in Untersuchungshaft in der Jugendstrafanstalt Berlin. Wegen Wiederholungsgefahr. Bei der Polizei und Justiz gilt er als jugendlicher Intensivtäter.
Am 3. April geht SawisjJ. zusammen mit zwei Kumpels in die Gustav-Heinemann-Oberschule, die seine Freundin Irene besucht. Sie hatte ihm von einer Mitschülerin berichtet, die ihr gesagt hatte, dass andere sie Schlampe nennen. Sie hatte ihm auch erzählt, dass sie das Mädchen zur Rede gestellt und diese die Beleidigung zurückgenommen hat. Doch für ihren Freund scheint die Sache damit nicht erledigt zu sein.
Die Gustav-Heinemann-Oberschule liegt in einer ruhigen Wohngegend mit einigen Hochhäusern und vielen Einfamilienhäusern. Gegen 9.45 Uhr erscheint Sawis J. mit seinen Kumpels auf dem Pausenhof. Was sich dort abspielt, schildert die Staatsanwaltschaft so: Sawis J. verlangt von der Schülerin, die das Gerücht mit der Schlampe weitererzählt hat, ihm zu sagen, wer seine Freundin beleidigt hat. Weil diese sich weigert, droht er, sie zu schlagen. Der stellvertretende Schulleiter sieht die Auseinandersetzung, stellt sich zwischen Sawis J. und das Mädchen und bekommt von dem Jungen einen kräftigen Stoß gegen die Nase. Auch ein von ihm zu Hilfe gerufener zweiter Lehrer kann den Angreifer nicht aufhalten. „Hurensohn, ich schlage dich!“, ruft der Junge. Mehrere Faustschläge mit einem Schlagring landen im Gesicht des Lehrers.
Dann geht Sawis J., so heißt es in der Anklage weiter, auf einen anderen Lehrer zu und schlägt ihn ebenfalls. Drei weitere Lehrer stellen sich dem muskelbepackten Schüler in den Weg. Einer bekommt einen Faustschlag ins Gesicht, eine Kollegin kann ihm ausweichen. Ein anderer Pädagoge beobachtet, wie Sawis J. auf seine Kollegen einschlägt. „Wie besinnunglos“, so beschreibt er es später. Er versucht, das Schultor zu schließen, um eine Flucht zu verhindern, doch das Tor klemmt. Sawis J. schlägt ihn von hinten auf den Kopf. „Ich kille euch, ich komme wieder und schneide euch die Kehlen durch“, sagt er.
Der Direktor der Heinemann-Oberschule sitzt in seinem Arbeitszimmer. Karl Pentzliehn, 61 Jahre, graue Haare, grauer Schnauzer und Brille, hat sich dieser Tag ins Gedächtnis eingeprägt. Schlägereien kennt man an der 1.300 Schüler zählenden Schule, die einen guten Ruf genießt, nicht. Vielleicht haben deshalb etwa 1.000 Schülerinnen und Schüler zugesehen, wie der Stellvertreter des Direktors und vier andere Lehrer angegriffen wurden.
Direktor Pentzliehn erzählt in ruhigem Tonfall, wie er zusammen mit einem der verletzten Lehrer und vier weiteren Kollegen die Verfolgung von Sawis J. und dessen Kumpels aufgenommen hat. „Er drehte sich immer wieder zu mir um, bespuckte und beleidigte mich: Pentzliehn, ich schneide dir jeden Morgen die Gurgel durch.“ Am Ende des Schulzauns, dort, wo der Weg in eine ruhige Seitenstraße mit Einfamilienhäusern und gepflegten Vorgärten übergeht, drückt der Direktor wahllos auf Klingelknöpfe. Zeit zum Warten, dass jemand herauskommt, hat er nicht.
Als Polizeisirenen zu hören sind, biegen die flüchtenden Jugendlichen gerade in einen kleinen Weg ein, der in einer Baustelle endet. Mühelos hätten sie fliehen können, tun es aber nicht. „Offenbar haben sie die Polizei nicht für voll genommen“, mutmaßt der Direktor. Widerstandslos lassen sie sich Handschellen anlegen. Als Sawis J. im Polizeiauto sitzt, erzählt der Direktor weiter, habe er ihn wieder beschimpft. „Du Hurensohn, du Nazi!“ Später weigert er sich, Angaben zu seiner Person zu machen. Deshalb ist es der Polizei unmöglich, seine Eltern zu informieren. Diese erfahren erst am nächsten Tag von der Festnahme ihres Sohns.
Seit dem 3. April gibt es an der Heinemann-Schule einen Ordner, den der Direktor „Gewaltordner“ nennt. Darin sind auch einige Handzettel abgeheftet, die wenige Tage später an Laternenpfählen zwischen der Schule und der nahe gelegenen Wohnung der Eltern von Sawis J. hingen. „Der Vorfall in der Gustav-Heinemann-Oberschule auf der Internetseite“, heißt es in roter Schrift. Darunter 15 Zettelchen mit einer Internetadresse mit dem Namen „Ungerechtigkeit“ zum Abreißen.
Sie stammen von Taghi J., Sawis Vater. Alle Welt soll sich über „das Leben in einem Rechtsstaat“ kundig machen. Über „korrupte Polizisten“, die in Anabolikageschäfte verwickelt seien, über „Gehirnwäsche“ und „Gestapomethoden“ an Schulen, über „Schuldirektoren mit Nazigedankengut“, über Lehrer, die „ihre pädagogische Aufgabe darin sehen, Schüler zu unterdrücken oder ihren Stolz zu brechen“.
Taghi J. ist 43 Jahre alt. Er kam vor 25 Jahren aus dem Iran zum Studieren nach Deutschland. Mit seiner deutschen Frau, einer Postangestellten, hat er außer Sawis noch einen älteren Sohn. Derzeit verdient der Elektroingenieur sein Geld als Taxifahrer und in der Informationstechnikbranche, wie er sagt. Der erste Eindruck von ihm: ein freundlicher, intelligenter Mann, der perfekt Deutsch spricht.
Aber nach wenigen Minuten in der verglasten Loggia in der Wohnung im eher bürgerlichen Lichtenrade, in der er zusammen mit seiner Frau sitzt, spricht Taghi J. so, wie er auf der Internetseite schreibt. „Mein Sohn wird seit drei Jahren systematisch schikaniert und in seinem Stolz verletzt“, regt er sich auf. „Gegen ihn läuft eine Rufmordkampagne.“ In Neukölln, wo die Familie bis vor sechs Jahren lebte, habe es solche Probleme nicht gegeben. „Dort gab es noch Zusammenhalt.“
„Ein Unschuldsengel ist mein Sohn nicht“, platzt es aus dem Vater heraus. „Damit wir uns nicht falsch verstehen.“ Aber, und das bringt ihn wieder in Rage, „warum verstehen die Menschen nicht, dass ein Vater seinen Sohn verteidigen muss!“ Sawis sei kein aggressiver Mensch. Klar, wenn er zuschlage, „ist der andere weg vom Fenster“. Doch das würde er nur tun, wenn er in seinem Stolz verletzt werde. „Jeder Mensch hat seinen Stolz. Wenn man den verletzt, braucht man sich nicht wundern.“
Seine Frau redet kaum. Einmal, als ihr Mann einräumt, dass er Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre nicht viel Zeit für den Sohn gehabt habe, kommt sie zu Wort. „Wir haben versucht, das Beste für die Erziehung zu machen. Auf die Freizeit kann man keinen Einfluss haben. Man ist ja nicht dabei.“
Immer wieder spricht Taghi J. von Stolz. Dass Sawis J. vor drei Jahren mit Kampfsport begann und wenig später damit, seinen Körper mit täglich vier Stunden im Fitnesstudio zu einem Muskelberg aufzubauen, hat nach seiner Schilderung damit zu tun. „Damals wurde sein Stolz zerkratzt“, sagt der Vater.
Ausgerechnet an einer Privatschule. Dorthin hatten ihn seine Eltern geschickt, nachdem es an den zwei der vier Schulen, die der Sohn zuvor besuchte, Probleme gegeben hatte. Die Recherchen ergeben, dass Sawis J. gegen die Schulordnung verstieß, als schwieriger Schüler galt und von der Privatschule suspendiert wurde. All das erzählt der Vater nicht. Dafür umso ausführlicher, wie sein Sohn von der Privatschule mit Handschellen abgeführt wurde. Wegen des Verdachts, das Handy eines Mitschülers gestohlen zu haben.
Einer Überprüfung hält diese Schilderung nicht stand: Der damalige Klassenlehrer habe einen Hinweis bekommen, sagt die Schulleitung, dass Sawis J. Drogen bei sich habe. Als die Schüler aufgefordert wurden, sich freiwillig durchsuchen zu lassen, habe er sich geweigert. Eine Polizeistreife wurde gerufen, bei der anschließenden Durchsuchung fanden die Beamten bei Sawis J. keine Drogen, dafür aber das verschwundene Handy. Für den Vater sind das Intrigen und Verleumdungen. „Wäre er blond und blauäugig, wäre das nicht so. Ich glaube meinem Sohn.“
An der Leistikow-Oberschule, die Sawis J. nach dem Rauswurf aus der Privatschule zugewiesen wurde, ist das „Martyrium“ nach der Beschreibung des Vaters weitergegangen. Sein Sohn sei dort von Lehrern als „Arschloch“ und „Sozialhilfeempfänger“ beschimpft worden. Auch da ist die Version der Schule eine andere. Mehrere Verstöße gegen die Schulordnung, unregelmäßiger Schulbesuch, unflätige Äußerungen, ein tätlicher Angriff auf ein Lehrer – so fasst der Direktor Horst Winkler das Verhalten von Sawis J. zusammen. Es stimme nur, dass ein Lehrer den Jungen „Sozialhilfeempfänger“ genannt habe. Dafür habe sich der Pädagoge entschuldigt.
Direktor Winkler hat mit vielen Eltern zu tun, die sich für ihre Kinder nicht interessieren. Dazu zählt er die Eltern von Sawis J. nicht. „Sie unterstützen ihren Sohn“, sagt er, und seine Stimme wird zynisch, „insofern als sie ihn in seinem Fehlverhalten unterstützen.“
Wie soll die Zukunft dieses 16-Jährigen aussehen? Groß ist die Ratlosigkeit, wie mit renitenten Jugendlichen wie ihm umzugehen ist. Heimunterbringung? Gefängnis? Entzug des Sorgerechts?
Direktor Winkler hat einen Antrag gestellt, dass Sawis J. auf eine andere Schule kommt. „Es kann nicht Aufgabe einer Schule sein, solche Verhaltensweisen aufzufangen“, sagt er kategorisch. Sollte Sawis J. heute zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, dann hätte sich das Schulproblem gelöst. Denn im Juli endet seine zehnjährige Schulpflicht. Einen Abschluss hat er dann nicht. Was bleibt, ist die Ankündigung des Vaters, die Angelegenheit auf seine Art zu regeln.