piwik no script img

Archiv-Artikel

Das Wort „Vietnam“ hört Bush jetzt öfter

Immer mehr haben die Amerikaner das Gefühl, die Situation im Irak sei der Kontrolle der US-Regierung und der US-Truppen entglitten

WASHINGTON taz ■ Präsident George W. Bush konnte sich am Donnerstag immerhin über drei Stunden Irak-freies Fernsehen freuen, als seine Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice im Kongress vor der Untersuchungskommission zum 11. September aussagte. Kaum hatte sie jedoch den Sitzungssaal verlassen, erschienen auf dem Bildschirm wieder tote und verwundete GIs, Straßenkämpfe, Guerillakrieger mit Panzerfäusten und zornige, vermummte Iraker. „Dies ist richtiger Krieg, nicht die Invasion letztes Frühjahr“, sagte ein US-Offizier am Donnerstag vor der Kamera.

Die blutigen Unruhen im Irak erschüttern zum Osterfest den Glauben vieler Amerikaner an eine baldige friedliche Lösung. Zweifel an Bushs Irakstrategie werden laut. Seine Umfragewerte rutschten in den Keller. Und das „Vietnam“-Wort macht immer öfter die Runde.

Bush hat sich derweil, wie häufig, wenn es kritisch wird, auf seinem texanischen Landsitz verkrochen. Andere Kabinettsmitglieder und Parteifreunde müssen die heiße Suppe in der Hauptstadt auslöffeln. Selbst beinharte Republikaner sind irritiert und sehen auf einmal seine Chancen auf Wiederwahl schwinden.

Die Bevölkerung scheint sich langsam neu zu positionieren. Ausführlich berichteten US-Medien in den vergangenen Tagen über ein sich wandelndes Stimmungsbild zwischen Boston und Seattle. Immer mehr Amerikaner meinen, die USA haben sich im Irak verrannt und der Konflikt sei viel komplizierter als von der Regierung dargestellt. Ratlos und uneinig reagieren die Menschen bei der Problemlösung. Liberale, die vormals gegen den Krieg waren, plädieren nunmehr für eine Truppenaufstockung. Konservative fordern plötzlich den Abzug der US-Streitkräfte. Und insgesamt herrscht das Gefühl vor, die Situation im Irak befinde sich bereits außerhalb der Kontrolle der Vereinigten Staaten und ihrer Koalition.

Viele nehmen es als Alarmsignal wahr, wenn selbst der ansonsten beschwichtigende Pentagon-Chef Donald Rumsfeld von „ernsthaften Problemen“ spricht und laut über eine Erhöhung der Truppenstärke nachdenkt. Nichts ist für die Bush-Regierung zum derzeitigen Zeitpunkt unangenehmer als einzuräumen, mehr Reservisten und Nationalgardisten nach Bagdad abkommandieren zu müssen. Dieser Schritt könnte der wachsenden Frustration an der Heimatfront weiteren Vorschub leisten und das Militär in weitere Verlegenheit bringen – immer mehr Soldaten schmeißen aufgrund des Krieges die Flinte ins Korn und quittieren den Dienst.

Ein Indiz über den aufziehenden Stimmungswandel sind vor allem konservative Medien. „Die USA können den Irak nicht durch Gewehrläufe zu einer demokratischen Gesellschaft umformen“, mahnt die USA Today. Die Denver Post wirft der Bush-Regierung vor, von Anfang an in unangemessener Eile gehandelt zu haben. „Die Truppen zahlen für solche Verrücktheiten den Preis.“

Selbst ansonsten verlässliche Propagandisten äußern Skepsis und Verwunderung. Billy O'Reilly, Moderator auf Fox News, Rechtsaußen und vehementer Kriegsbefürworter, warnte, die Situation im Irak gefährde Bushs Wiederwahl. Vielleicht sei ein Abzug doch ratsam. Patrick Buchanan, konservativer Kolumnist und 1992 im Wahlkampf Gegenspieler von Bush senior, sieht die USA in den irakischen Sumpf gezogen. „Ein Versagen unserer Mission ist nunmehr eine Option.“

Doch nicht nur Bush befindet sich in aktuter Erklärungsnot. Wann immer sein Herausforderer John Kerry eine Bühne betritt, um über Wirtschaftspolitik zu reden, zwingen in die Zuhörer, zum Irak Stellung zu beziehen. Neben scharfer Kritik an Bush – „schwerstes Versagen von Diplomatie und Urteilsvermögen während meiner politischen Laufbahn“ – bleiben seine Alternativen unausgegoren. Die Antwort, wie genau er sich die „Internationalisierung“ der Konfliktlösung vorstellt, bleibt er den Wählern schuldig. MICHAEL STRECK