: Ein Kiez will weg aus Berlin
„Der einzige Ausweg ist Flucht.“ Erboste Marzahn-Hellersdorfer wollen keine Hauptstädter mehr sein – und lieber Brandenburger werden. Der Grund: Sie warten vergeblich auf die Sanierung ihrer Häuser
von SIMONE ROSSKAMP
Es kommt einfach keiner vorbei. Stille überall, nur ein kratziges Husten schallt vom fünften oder sechsten Stock hinunter auf die Straße. Vögel zwitschern von der Reißbrettbegrünung. Jedes zweite Fenster hat hier keine Gardinen mehr. Auf dem breiten Mittelstreifen parken ein paar angestaubte Autos, darunter ein Trabi mit zerschlagener Scheibe. Wer die Rosenbecker Straße, Marzahn-Hellersdorf, überqueren will, braucht weder links noch rechts zu schauen.
Das Viertel rund um die Straße ist ein sterbendes, Umzugs-Lkws gehören längst zum Alltagsbild. Doch die Zurückgebliebenen kämpfen um ihren Kiez, und das mit einer außergewöhnlichen Idee: Drei komplette Straßenzüge wollen sich ausklinken, wollen einfach nicht mehr dazu gehören zur Stadt Berlin – und mit ihnen der ganze Nordwestzipfel Marzahns. Auswandern also, und alle Plattenbauten, Verkehrswege und Menschen wollen sie mitnehmen. „Unser einziger Ausweg ist die Flucht“, sagt Petra Oelsner, Sprecherin des Bewohnerbeirates Nord-West, „die Flucht in eine dörfliche Gemeinschaft, die sich den Menschen stärker zuwendet als die unsolidarische Hauptstadt“. Deshalb hat der Bewohnerbeirat einen Brief geschrieben, eine Bitte um Asyl an die Nachbargemeinde Ahrensfelde – Brandenburg wohlgemerkt.
Der Mieteraufstand hat eine Vorgeschichte: 1.600 Wohnungen gibt es im nordwestlichen Quartier von Marzahn. DDR-Platte vom Feinsten. Eigentlich sollte hier mal das Leben pulsieren. Doch die Menschen verlassen die Plattenbauten, Typ WBS 70, die noch kurz vor der Wende aus dem Boden gestampft wurden. Diejenigen, die bleiben wollen, sind einsam geworden. Zum Beispiel die Rentnerin Brigitta Dommaschke. Von 44 Parteien in ihrem Haus sind gerade noch vier übrig geblieben. Dafür ist etwas anderes eingezogen: „Ein ganz schön mulmiges Gefühl“, sagt sie.
Viele Marzahner gehen freiwillig, andere werden „entmietet“, wie es in der Fachsprache der Wohnungsgesellschaften heißt. Von der städtischen WBG Marzahn werden sie umgesiedelt. Denn dass etwas geschehen soll mit dem keilförmigen Quartier im Zentrum von Marzahn Nord-West, Havemann-, Rosenbecker und Eichhorster Straße – insgesamt 49 Aufgänge mit jeweils elf Geschossen – das ist schon länger klar. Nur was genau, so klagen die Bewohner, das steht noch nicht endgültig fest – oder besser: nur unter Verschluss in den Senatsakten.
Zwar hat die WBG Marzahn im letzten Jahr einen Gestaltungs-Wettbewerb gewonnen. Das Ergebnis: Sie will die drei Straßenzüge in der Mitte des Quartiers sanieren und zurückbauen, also nur die obersten Etagen abreißen. 500 Wohnungen sollen erhalten bleiben. Doch ob und wann das stattfinden und das nötige Geld fließen wird, das weiß hier noch keiner.
Die Mieter fühlen sich, so heißt es in dem Brief, von der Berliner Verwaltung „abgeschrieben und – bildlich gesprochen – beerdigt“. Seit September letzten Jahres gebe es keinerlei Aufklärung aus dem Senat. „Die Entmieteten bekommen kaum Angebote, nach der Sanierung in ihre Häuser zurückzukehren“, schimpft Rentnerin Dommaschke, „kein Wunder, dass bald alles leer steht.“ Das Modellprojekt Stadtumbau Ost, fürchten Dommaschke und die anderen, wird heimlich umfunktioniert: zum Stadtabriss Ost.
Das Abwanderungsbegehren soll jetzt die Ämter aus der Reserve locken. Bernhard Wollermann jedenfalls, der Amtsdirektor der Brandenburger Gemeinde Ahrensfelde, fühlt sich geschmeichelt: „Schließlich loben unsere Nachbarn so indirekt unsere Arbeit“, sagt er, hält das Ganze aber eher für eine Symbolgeste. Doch dann, zur Sicherheit, schiebt er nach: „Ich bezweifle, dass wir – eine 4.000-köpfige Gemeinde – das Geld für den Umbau aufbringen können.“
Schon zu DDR-Zeiten gehörten die drei Straßenzüge zum Brandenburger Land. Mit der Idee, sich noch vor dem geplanten Staatsvertrag wieder in Brandenburg einzugliedern, sehen die Marzahner eine Chance. Nämlich die, sich endlich aus der Rolle des ungeliebten Hauptstadtstiefkinds zu befreien. Es ist eine stille Rebellion des Berliner Nordwestzipfels. Draußen auf der Straße wirkt es fast idyllisch ruhig. Doch auf eine Infosäule ist in großen Lettern das Gefühl gesprayt, welches die Menschen hier verspüren: Zorn.
Petra Oelsner kann aus ihrer Wohnung im zehnten Stock bis nach Ahrensfelde sehen, über saftige Wiesen. Den Blick nach unten auf die Straße der Plattenbausiedlung hat sie bisher auch genossen, schließlich lebt sie gern hier. Doch heute ist die Aussicht vor der Haustüre eher ernüchternd. Täglich beobachtet die Sprecherin des Bewohnerbeirats, wie ihr geliebter Stadtteil immer stärker verwahrlost: „Allein gestern Abend gab es hier vier Brandherde“, erzählt sie, während sie wieder auf der Couch Platz nimmt, gleich neben dem Sandmännchen aus dem DDR-Fernsehen. „In den fast verlassenen Plattenbauten können Vandalen in aller Seelenruhe ihren Zerstörungsgelüsten nachgehen.“ Und tatsächlich: Geht man durch die verlassenen Gänge sieht man angekritzelte und verkohlte Wände, auch aufgebrochene Wohnungen: „Die werden als heimliche Partyräume genutzt“, sagt Oelsner. „Es ist schon ein komisches Gefühl, fast allein zu sein in einem so großen Haus. Manchmal hört man Geräusche aus leeren Räumen unter oder neben sich.“ Die WBG Marzahn wollte mit Nachtwächtern für Sicherheit sorgen. Auf die warten die Bürger immer noch.
Verständnis für die Ängste und die separatistischen Tendenzen der Marzahner zeigt Marzahn-Hellersdorfs Bürgermeister Uwe Klett (PDS). Die Asylbitte beim Nachbarn Ahrensfelde – Hilferuf eines vernachlässigten Stadtteils? „Der Zusammenschluss von Berlin und Brandenburg mit seinen Chancen für eine dezentrale Struktur muss offen diskutiert werden“, fordert Klett und weiter: „Die Empörung ist berechtigt. Wir selber bekommen zur Zeit keine Informationen aus dem Senat.“ Eigentlich, so erinnert er sich, gab es auf einer gemeinsamen Sitzung großen Konsens, was die Zukunft des Quartiers betrifft. Es sollte aufgewertet und stabilisiert werden – auf keinen Fall abgerissen. Die Freigabe der finanziellen Mittel, mit denen die Bauten saniert werden sollen, erfolge aber seit einem halben Jahr nicht. Stadtentwicklungssenator Peter Strieder berufe sich auf ein Gutachten, das noch ausstehe und Aufschluss darüber geben solle, ob die Wohnungen überhaupt gebraucht würden, so Klett.
„Dieses Gutachten liegt jetzt vor“, sagt dagegen die Staatssekretärin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer. Schon zwischen 1993 und 2000 verließen 34.000 Menschen die Großsiedlung Marzahn. Dass dieser Trend anhalten wird, beweist besagtes Gutachten, das Bürger und Bürgermeister immer noch nicht gelesen haben.
„Große Wohnungen zu halten, die leer stehen, macht keinen Sinn“, so Junge-Reyer. Bisher sei aber noch kein Abriss genehmigt worden – bis auf ein Doppelhochhaus in der Marchwitzastraße, die aber zu einem anderen Planungsgebiet gehört. Würden auch die drei Straßenzüge im nordwestlichen Quartier abgerissen und nicht zurückgebaut, bedeute das das Aus für die Wohnqualität, klagen die Bürger: Eine riesige Fläche Brachland inmitten einer teils elfgeschossigen Hochhaussiedlung.
Dass ein solcher Kahlschlag geplant ist, weist der Vorstand der Mutterfirma Degewo, Thies-Martin Brandt, vehement zurück. „Das Konzept, das im letzten Jahr für den Stadtumbau Ost veröffentlicht wurde, ist modifiziert worden und weiterhin aktuell.“ Die Bauten an der Havemannstraße sollen demnach in höchstens fünf Etagen zurückgebaut werden, so dass 500 Wohnungen erhalten bleiben. Ein Komplettabriss sei nicht geplant. „Wäre hier ein Loch, dann hätte dieses Stadtviertel keine Struktur mehr.“ Was nach dem Rückbau komme, müsse allerdings abgewartet werden, so Brandt. Noch könne man nicht ausschließen, dass später etwas abgerissen werden müsse.
Brandt wünscht sich den Baubeginn an der Havemannstraße so schnell wie möglich. Heute lädt die Degewo zur Feierstunde, sie verabschiedet in einem Plattenbau an der Havemannstraße den letzten Mieter. Und schenkt einen Blumenstrauß.