: Nicht-Hartz-IV
Strickjacke zu Hause
Der einzige warme Raum in unserer Wohnung ist die Küche. Der Nachbar in der Wohnung unter uns heizt seine Küche gut, die Decken sind sehr dünn, und wir bekommen daher glücklicherweise eine Menge davon ab. Warum er seine anderen Räume nicht heizt, wissen wir nicht.
Unsere Arbeitsplätze sind in den Räumen neben der Küche. Hier sitzen wir mit Handstulpen vorm Computer. Wenn man eine Wärmflasche vor die Tastatur legt, auf der man seine Hände beim Tippen ablegt, kann man sich eine Weile warm halten. Die Fingerkuppen werden zwar trotzdem kalt, aber schnelles Aneinanderreiben derselben nach jedem zehnten Satz wirkt Wunder. Alles Bewegliche, wie einzelne Blätter und Zettel, tragen wir in die Küche und lesen sie dort. Wir wollen zwar nicht unbedingt das Bild des armen Dichters abgeben, aber die Prognosen der Energiekonzerne und die bösen Briefe mit Preiserhöhungen, die sie uns ins Haus schickten, haben uns etwas in Sorge versetzt. Als irgendein gemeiner Politiker verlautbaren ließ, Hartz-IV-Empfänger könnten in ihrer Wohnung durchaus einen Wollpullover tragen, fanden wir das als Nicht-Hartz-IV-Empfänger und überhaupt als Menschen zwar unmöglich, sahen uns aber vielsagend an. Denn wir trugen nicht nur einen Wollpullover, sondern noch eine Strickjacke darüber. Von den dicken Wollsocken ganz zu schweigen.
Wir sehen den Nachbarn von unten manchmal im Garten, wie er seine Blumenkübel hin und her rückt, den Rasen mäht oder die Mülltonnen an die Straße stellt. Wenn er die Tonnen wuchtet, schnauft er laut. Ob es nicht für seine Lunge besser wäre, seine Wohnung warm zu halten? Ihm müsste eigentlich kalt sein, doch er trägt immer ein T-Shirt.SANDRA NIERMEYER