: Der panische Untergrund
DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
Er hatte ein Kofferradio, so eins, das uns schon vor zwanzig Jahren peinlich war. Wo man keinen Ton mehr einzeln hört. Das heißt, streng genommen hört man überhaupt keine Töne, sondern eben Kofferradio. Fast Vierzigjährige mit solchen Kofferradios sind an Peinlichkeit nicht zu überbieten – und so einer stieg nun ein in die S-Bahn. Es gibt nur ein einziges Gesetz des Kofferradiohörens: Es muss laut sein. Der Mann setzte sich schräg gegenüber, und alles vibrierte plötzlich. Sogar meine Zeitung. Das war ein eindeutiger akustischer Übergriff. Ich las gerade etwas über den Anstieg der Kriminalität in Deutschland. Dass die Zahl der jugendlichen Täter wächst. Dass sie immer brutaler werden. Und immer mehr haben kein Motiv. Das sei überhaupt das grundsätzlich Neue. Früher hatten fast alle ein Motiv, heute nicht mehr.
Und nun saß da dieser Typ, das Gesicht genauso explosionsgefährdet wie sein Radio. Wenigstens war er nicht mehr jung. Ich sah ihn kurz zurechtweisend an und bekam sofort einen Schreck. Was, wenn er das jetzt gesehen hätte? Typen wie der warten doch nur darauf, dass einer sie schräg anguckt, und dann hauen sie zu. Solche ohne Motiv tun das immer. Und wer hat schon Lust, sich zum Motiv machen zu lassen?
Als der Kanzler noch andere Probleme hatte als heute, rief er mal zum „Aufstand der Anständigen“ auf. Das klingt sehr gut geerdet, Aufstand und Anstand, und der Typ mit dem Kofferradio benahm sich ja wirklich unanständig. Aber mehr pragmatisch gesehen, heißt „Aufstand der Anständigen“ doch, zum Motiv eines Motivlosen zu werden. Also so tun, als höre man nichts. Und weiter Zeitung lesen. Obwohl jede Zeile wackelte. Wie alle Feigen war auch ich sehr neugierig. Ich übersah angestrengt den Kofferradio-Mann, um mir dafür die anderen genauer anzuschauen. Sie benahmen sich wirklich alle gleich. Völlig in Anspruch genommen von ihren Taschen, der Abfolge der S-Bahn-Stationen oder ihren Zeitungen. Um den Mann bildete sich ein unsichtbarer Kreis. Eine Mauer aus Luft. Der Explosionsgefährdete saß in einem Vakuum. Innen Überdruck, außen Unterdruck – eine bedenkliche Situation.
Und dann kam der Obdachlosenzeitung-Verkäufer. Er kam, sah und hörte, und voller Mitleid sahen wir ihn auf den Kofferradio-Mann zugehen. So ist das in dieser Gesellschaft. Die, denen es ohnehin schon übel geht, kriegen alles ab. Wer erhöht worden ist, wird immer weiter erhöht, egal was er tut, Bahnchef Mehdorn zum Beispiel, aber wer schon kein Zuhause mehr hat, wird auch noch zum Motiv.
Der Obdachlose schob seine Schirmmütze ein Stück nach hinten, nahm den Zeitungsstapel in die andere Hand und legte die freie ermahnend auf die Schulter des Kofferradio-Mannes: „Eh du, das ist aber Belästigung der Fahrgäste. Hörst du nicht, wie laut das ist?“ – In dieser Sekunde haben wir den Obdachlosen bewundert, in der nächsten würden wir um ihn trauern. Aber die Faust des Radiomannes blieb liegen auf der klirrenden Musikmaschine, dafür sprach er plötzlich. Irgendwie haben wir nicht damit gerechnet, er schien sich bereits in einem Zustand nach der Sprache zu befinden. Das ist Hardrock, sagte er, das muss man laut hören!, sagte er, das ist Deep Purple, kennst du das? Hörst du die Wut, diese unglaubliche Wut? Der Kofferradio-Mann sah uns alle an. Wir nickten feige. Wir hörten nur Kofferradio, taten aber so, als hörten wir die Wut. Muss man laut hören, wiederholte der Radiomann. Dann kam „Sweet child in time“, plötzlich sehr langsam. Muss man auch laut hören, erläuterte der Kofferradio-Mann. Wir hörten es alle zusammen. Jetzt trauten wir uns sogar, ihn genauer anzusehen. Er trug Anzug, eine verrutschte Krawatte, er hatte eine Aktentasche und Lackschuhe an. Gibt es Penner mit Aktentasche und Lackschuhen? Der Mann sah aus wie soeben aus dem mittleren Management gefallen. Kurz vor dem Aufprall. Aber noch fiel er.
Es gibt einen neuen Trendberuf, weiß der aktuelle Spiegel. Das ist der Trennungsexperte. Trennungsexperten bringen in teuren Seminaren Firmen bei, wie sie am besten ihren Mitarbeitern kündigen. Nie so: „Leider möchten wir Ihnen mitteilen, dass wir beabsichtigen, dass wir also möchten …“, sondern so: „Hiermit kündige ich Ihnen fristgerecht!“ oder „Hiermit beende ich die Zusammenarbeit mit Ihnen!“ So soll – laut Trennungsexperte – immer der erste Satz sein. In den Seminaren schreibt der Trennungsexperte solch erste Sätze an die Tafel. Nichts sei schlimmer als dilettantisches Kündigen. Die Firmen lernen, dass sie nie vor Ostern oder Weihnachten, nie am Freitag und nie vorm Urlaub kündigen sollen. Aber was muss mit uns passiert sein, wenn leitende Angestellte Sätze wie „Hiermit kündige ich Ihnen fristgerecht!“ von der Tafel abschreiben? Expertentum und absolute Infantilität liegen sehr nah beinander in dieser Gesellschaft. Und warum nennt sich ein Schöner-Kündigen-Dozent „Trennungsexperte“? Bestimmt wurde dem Deep-Purple-Mann auch falsch gekündigt.
Jedes Zeitalter bringt seine eigenen metaphysischen Erlebnisse hervor. Das Gekündigtwerden ist eine der letzten metaphysischen Erfahrungen, die man heute noch machen kann. Menschen, die sie kennen, beschreiben sie so: Du hörst den ersten Satz, und dann fängst du an zu fallen, immer tiefer, und du hörst gar nichts mehr. Insofern sind Trennungsseminare rausgeschmissenes Geld, weil jeder nur den ersten Satz hört, und da klingt: „Wir möchten Ihnen, äh, mitteilen, dass wir, nun ja, beabsichtigen …“ irgendwie viel schöner als „Hiermit kündigen wir Ihnen fristgerecht.“ Weil in den Ähs doch die Restwürde des Zuentlassenden widerklingt.
Das letzte Wochenende war historisch, da hat der Kanzler Recht. Die beiden großen Verlierer des letzten Wochenendes waren der Papst (Ökumenischer Kirchentag) und die Gewerkschaften (Agenda-Parteitag). Der Papst und die Gewerkschaften gelten dem modernen Bewusstsein als das Allerletzte, und nur weil sie von gestern sind. Dabei ist das katholische Abendmahl wirklich anders. Denn es ist ein Unterschied, an Gott nur zu denken oder ihn aufzuessen. Katholiken, wenn sie echt sind, sind Gottesverzehrer. Wenn der Radio-Mann zum katholischen Abendmahl gehen könnte, könnte er sich fallen lassen in Gott. Gott wäre in ihm, er hätte ihn ja gerade gegessen. Es ist bestimmt leichter, katholisch zu sein und arbeitslos als protestantisch oder atheistisch und arbeitslos. Weil es auf weltlicher Grundlage keine Hiobs mehr gibt. Für einen katholischen Verlierer mag sein Verlierertum eine ihm schwer durchschaubare Stelle im Heilsplan Gottes darstellen, eine akute Prüfung. Aber der atheistische Verlierer wird nicht mal mehr geprüft. Und er hat statt Gott nur noch Deep Purple.
Und damit wir das nicht so merken, hat die westliche, trotz Kirchentag grundatheistische Zivilisation die Sozialsysteme erfunden. Sie sind nur sekundär Hängematte, primär sind sie ein quasimetaphysischer Abschirmdienst gegen den leeren Raum. Eine nachreligiöse Erneuerung der Botschaft: Du kannst nicht ganz verloren gehen. Diese schützende Hülle hat der SPD-Parteitag nun weggezogen. Schon richtig, dass sie es tun musste. Angewandte Metaphysik ist teuer. Aber der panische Untergrund der Gesellschaft wird nun spürbarer.