: Sieg im Symbolkrieg
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
Wir brauchen bald ein klares Bild. Volker Rühe am 10. 4. 2004 in der „Tagesschau“ zur Lage im Irak
Ein klares Bild wäre wünschenswert, aber die jüngsten Ereignisse im Irak lassen befürchten, dass Klarheit – als Kategorie der Planung und als Eigenschaft der Köpfe, die Pläne aushecken – zur Mangelware geworden ist. Mit den Massenvernichtungswaffen ist zugleich die Lügenkonstruktion, die sie erst zum Thema machte, aus den Schlagzeilen verschwunden. Als der angeblich schlimmste Diktator nach Hitler aus einem Erdloch gezogen wurde, gab es ein paar Tage Bilder wie auf dem Jahrmarkt und ein schrilles Tamtam.
Ob Saddam noch lebt und wo, wissen inzwischen wohl nur noch seine Bewacher. Ein paar dubiose Advokaten streiten um die Millionen, die sie sich von seiner Verteidigung erhoffen: in einem Prozess, von dem kein Mensch weiß, vor welchem Tribunal er stattfinden wird. Demokratie? Sie soll schlagartig am 30. Juni um Mitternacht in Kraft treten, wenn Paul Bremer sein Regime aus US-hörigen Marionetten und politischen Kriegsgewinnlern eingesetzt haben wird – eine Hand voll sunnitischer und schiitischer Satrapen ohne jede Basis in der Bevölkerung. Die Phrase vom „nation building“ ist Powell und Rumsfeld längst im Hals stecken geblieben, während dem Präsidenten nur noch die Vokabel „Sieg“ einfällt – die roheste, inhaltsärmste, steinzeitklobigste Wortkeule eines Kriegsherren, der am Ende seines Lateins ist und stumpfen Blicks die Leichen zählt.
Wie sollte heute, ein Jahr nach dem Einfall der US-Truppen in den Irak, Klarheit zu haben sein, da doch schon am Anfang des Debakels außer Machtgier, dem denkbar dümmsten Motiv, nur eine trübe Melange aus erlogenen Kriegszielen, Klischees vom urbösen Feind und globalem Sendungsbewusstsein die Köpfe der Verantwortlichen vernebelt hat?
Man kann die Situation auch als einen Zustand medial gestützter Paranoia beschreiben. Auf der Website von CNN läuft der Bodycount: 650 tote amerikanische Soldaten seit Kriegsbeginn. Glaubt man gelassenen Zynikern, ist die Lage im Irak von einer „Vietnamisierung“ weit entfernt. Arithmetisch mag dies zutreffen, soweit es die eigenen Leichen betrifft – die Zahl der getöteten irakischen Zivilisten wird allenfalls von humanitären Organisationen hochgerechnet und verliert sich in den Wolken der Propaganda, wenn der Präsident vor seine Nation tritt. Als Bush in den Landrover stieg, um in die Osterferien auf seine Ranch zu fahren (eine typische TV-Metapher, die als Kamerakonstrukt allerdings glänzend funktioniert), zeigte das Fernsehen auch Bilder von gewehrschwingenden Abenteurern und versicherte, dies sei der irakische Widerstand; Sunniten und Schiiten seien sich jetzt einig im Kampf gegen die Besatzer.
Die bittere Wahrheit ist, dass die Bilder uns mit hektisch montiertem oder übel inszeniertem Fastfood abspeisen, während die Fakten hinter den Bildern von erschütternder Simplizität sind: Bush ist und bleibt der texanische Cowboy, der die Wahl vermutlich gewinnen wird, weil seine Medienberater ihn demonstrieren lassen, dass er, kurzärmelig und mit robuster Entschlossenheit im Blick, einen Landrover steuern kann. Und Befreier, die die Befreiten als „Untermenschen“ behandeln (deutscher Originalton britischer Zeitungen am letzten Wochenende), schaffen Einigkeit, die auf die Befreier zurückschlägt: eine Wahrheit, die schon früh abzusehen war, ohne dass es verwackelter Filmstreifen mit gewehrschwingenden Abenteurern bedurfte hätte.
Die Zivilgesellschaft schaut entnervt zu – partiell anästhetisiert; nur unsere Augen sind weit aufgerissen, weil wir nicht fassen können und trotzdem hinnehmen müssen, was sich derzeit die Avantgardenation der zivilisierten Menschheit leistet. Nebenbei geschieht beklemmend Kurioses, denkbar nur in Zeiten postmoderner, an Pop gemahnender Political Correctness. Ende Februar berichtete der Guardian über die Forderungen von Angehörigen irakischer Todesopfer gegen die britische Armee. Danach bereiten britische Anwälte in 18 Fällen Schadensersatzklagen gegen das United Kingdom und seine Generäle vor. Es geht um Iraker, die nach dem Einmarsch der Briten bei Razzien erschossen wurden, „obwohl sie weder Straftaten begangen hatten noch Waffen bei sich trugen“. Um Passanten, die zufällig in die Schusslinie gerieten, und Kinder, die von britischen Splitterbomben zerfetzt wurden.
Ein Gedankenspiel, geboren aus idealistischen Erwägungen und utopischen Hoffnungen, drängt sich auf: Könnten Zivilklagen gegen mordende Soldaten in Zukunft womöglich das kriegerische Morden erschweren? Warum bringen wir gegen die Kriegsfanatiker von heute, gegen die Bushs, Powells und Rumsfelds, aber auch gegen ihre Helfershelfer wie Blair und Berlusconi, gegen ihre intellektuellen Nachbeter wie Enzensberger und Broder nicht einfach gute Rechtsanwälte in Stellung – rein zivilrechtlich, versteht sich, doch unter Androhung der zulässigen Höchststrafe? Könnte nicht auf diesem Wege der neue Militarismus sozusagen zivilgesellschaftlich ausmanövriert werden? Einfach darum, weil künftig jeder Soldat es sich zweimal überlegen wird, bevor er schießt – und jeder General die prozessualen Folgen bedenkt, bevor er ihm das Schießen befiehlt? Müsste nicht endlich das heilige Menschenrecht auf das nackte Leben vor jedem Amtsgericht gegen die Kanoniere und ihre Befehlshaber erstritten werden können? Und ist dies nicht ein Ziel, das die Pazifisten aller Länder, Arm in Arm mit der Jurisprudenz, auf die Straße, vielmehr in die Gerichtssäle treiben müsste?
Mich beschleicht allerdings ein böser Verdacht. Da in Politik und Wirtschaft, in der Kultur und selbst im Krieg die Symbole regieren, könnte auch die Aktion der Rechtsanwälte nichts anderes als pure Symbolik sein. Symbole sind nicht immer zu verwerfen. Sie können ein schlechtes Gewissen produzieren, etwa beim britischen Verteidigungsministerium, das den betroffenen irakischen Familien eine Entschädigung von 1.000 US-Dollar angeboten, eine Schuld der eigenen Truppen freilich nicht anerkannt hat. Symbole lösen überdies Diskussionen aus – in diesem Fall vielleicht über die Brutalität des militärischen Vorgehens im Irak. Symbole, die medial wirksam werden, können zu Untersuchungen führen – in diesem Fall über die Todesursachen der Betroffenen. Unterdessen und danach, wenn die Debatten und Untersuchungen ausgestanden sind, wird das Morden weitergehen. Symbole sind eine ambivalente Angelegenheit.
Allerdings ist Geld im Spiel. Über die Höhe der Schadensersatzforderungen ist bisher nichts bekannt. Über die Höhe der Anwaltshonorare und über diejenigen, die sie zu zahlen bereit sind, vermutlich auch nicht. Ein weitergehender Verdacht, der mich nicht loslässt: Hier könnten achtzehn schuldlos erschossene oder von Splitterbomben getötete Männer, Frauen und Kinder herhalten für einen Mediencoup, den ein paar publizitätsversessene Anwälte vor der moralisch erregten Öffentlichkeit inszenieren wollen, um sich in ihrer Zunft glanzvoll zu positionieren. Klarheit über Recht und Unrecht und über die wirkliche Lage im Irak erwächst daraus wohl auch nicht.
Fotohinweis: Klaus Kreimeier ist Medienwissenschaftler und Publizist.