: Heiner Müllers Haschisch
Dies ist keine Weihnachtsgeschichte. Was hier erzählt wird, handelt von einem jungen Mann im Berlin der Nachwendezeit, der Heiner Müllers Dope auf dem Schulhof verkaufte, in Schwierigkeiten geriet und mit der „Hamletmaschine“ seine Ruhe fand
VON JURI STERNBURG
„Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir,/ mit dem kleinen Hackebeilchen, macht er Hackefleisch aus dir!“ So sang ich oftmals vor mich hin. Das Ende der Hausbesetzerszene nahte und die Berliner wussten noch nichts von einem CDU-Bankenskandal, ich noch nicht viel über den einigermaßen neu hinzugekommenen Osten. Dass ausgerechnet jene Volksweise über den Resteverwerter Haarmann mein Lieblingsvers war, ist tiefenpsychologisch zu betrachten und hatte Gründe, die hier nicht näher ausgeführt werden können. Meine Faszination für das Böse jedenfalls war da, und sie wich nicht.
Die meinungsbildende Person in unserer Wohnung war daher der Meinung, ich müsste ans Theater gehen. Nachdem ich mich etwas widerwillig bei Thomas Heise vorgestellt hatte, der noch ein Kind für den siebenseitigen Monolog des „Voyeurs“ suchte, begann ich am Berliner Ensemble Wildenhains „Im Schlagschatten des Mondes/ Hänsel & Gretel“ zu proben.
Wenn irgendeine Schule die zahllosen Fehlstunden aufgrund meiner schauspielerischen Tätigkeit akzeptieren musste, dann ja wohl eine Waldorfschule. Im weiteren Verlauf erschien der feine Herr ein halbes Jahr fast gar nicht mehr und beide Seiten waren glücklich: Ich, da ich mit 12 Jahren mehr Geld verdienen konnte als meine Lehrer, und sie, weil sie mit der Ausrede, der besonderen Begabung nicht im Weg stehen zu wollen, einen permanenten Quälgeist loswurden.
Es hätte das glückliche Ende einer unglücklichen Beziehung werden können, doch wozu gibt es Mütter. Mütter wollen, dass man was lernt. Und zwar nicht nur übers Leben. Immer wieder erschien sie auf der Bildfläche, um einen Schulwechsel anzupreisen, vorzugsweise auf ein Gymnasium. Ich beschleunigte diesen Prozess, indem ich CS-Gas (das mir mein Vater geschenkt hatte) in das Büro des Hausmeisters sprühte und den einige Zeit später Eintreffenden somit zu einer Kotzorgie im Treppenflur der Schule zwang. Zur selben Zeit etwa entdeckte ich das Graffiti-Sprühen und diverse Demo-Aktivitäten für mich.
Man kann also alles in allem behaupten, dass ich ein „breitgefächertes Interessengebiet“ vorzuweisen hatte. Auf der Waldorfschule in Kreuzberg waren dies alles keine Gründe, um als Außenseiter zu gelten, zumal ich – man mag es kaum glauben – immer der Klassenclown war und durch an der Ferse blinkende „L.A. Gear“-Sneakers mit eingesticktem Michael-Jackson-Autogramm überzeugen konnte. Auf dem jüdischen Gymnasium, auf das ich nun ging, kam aber keine dieser Eigenschaften gut an. Lange musste ich mit dem merkwürdigen, Elton-John-Comics zeichnenden Mädchen namens Deborah, der unbeliebten Prollbraut Rhina und dem dicken Benjamin auf dem Pausenhof stehen und über die anstehenden religiösen Feiertage oder die fehlende jüdische Herkunft verschiedener Schüler debattieren.
Niemand schien sich für mich zu interessieren, bis zu dem Tag, als meine Mutter mich bat, das Fenster in der Fabriketage von Heiner Müller weit zu öffnen und an der Öffnung stehen zu bleiben. Wir Kinder guckten gerade ein Video und meine löchernden Fragen wurden knapp mit „die kiffen“ beantwortet.
Ich hatte bereits gehört, dass die Großen in der Schule das auch tun. Mein erster Annäherungsversuch an die Raucherecke auf dem mit Kameras überwachten und von Mossad-Leibwächtern beschützten Schulhof war ein Reinfall, hatte ich doch nur die Blätter der bei Müller reichlich wachsenden Marihuanapflanzen abgeschnitten. Das wollte niemand. Ich bräuchte das Endprodukt, sagte man mir. Als ich das nächste Mal mit einem Krümel klebrigem Dope ankam und beobachtete, wie sich die pseudolinken Cordhosenjungs nach dem Konsum in Lobpreisungen überboten, war klar: Ich würde von nun an dazugehören, so wie kleine Jungs, die Blödsinn im Auftrag der größeren Jungs machen, eben dazugehören. Eigentlich gar nicht, aber irgendwie doch.
Ich selber hatte zwar noch nie was geraucht, aber mir wurde versichert, dass es sich um beste Qualität handelte. Man war bereit, mir für einen ähnlich großen Krümel zehn Mark zu zahlen.
Ganze zwei Mal funktionierte dieses Geschäft, bis die Russen aus der Oberstufe (die, wie man hörte, zu mindestens 70 Prozent gar keine Juden waren, sondern sich in Russland gefälschte Papiere besorgt hatten und während der Geschichtsstunden über die unglaubliche Stärke der russischen Armee sinnierten) davon Wind bekamen und versuchten, mich zu erpressen. Täglich triezten sie mich, drohten mir Schläge an und verlangten etwas von dem inzwischen sagenumwobenen Haschisch. Nichts lief mehr wie gewohnt. Mit dem Satz: „Ich bin nur so müde und unaufmerksam, weil ich abends proben muss“, machte ich mir nur wenige Freunde im Lehrerkollegium. Meine erste Depression stand an.
Problembeladen saß ich also im Hof des Berliner Ensemble, ich hatte eine Stunde Pause, da Tom Schilling Einzelproben brauchte, und guckte bedröppelt zwischen all den wie immer diskutierenden, viel zu klugen und viel zu alten Menschen hervor, als einer Mitleid bekam. Einar Schleef beugte sich mit der Miene des Werther’s-Echte-Opas zu mir herunter: „Na, la-la-langweilig hier zu si-sitzen?“ – „Nee, Pr-probenpause und Scheißschule!“, antwortete ich. „Und meine Lehrerin sagt, ich kann gar nicht Theater spielen, weil ich manchmal stotter!“ – „Da-das heißt nu-nur dass du ein G-Genie bi-bist!“, sagte Schleef und schaute bestimmend in die Runde, während der Rest des Tisches lachte. Seit diesem Tag bin ich verdorben und verloren, schenkte ich dem alten Mann doch Glauben.
„Das schwere Herz wird nicht durch Worte leicht.“ Behauptete Schiller fälschlicherweise. Ich hingegen zerbarst beinah vor Tatendrang und Motivationsschüben. Und wenn jemand meine Kritik am Großmeister der deutschen Sprache bezweifelte – „Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort“ wäre eines von Schillers Konterzitaten –, so konnte er am darauf folgenden Tag beobachten, wie ich meinen Worten Taten folgen ließ.
Die schon langsam müde wirkenden Erpresser-Russen wurden mit einigen alten Videos („Leathal Weapon 1&2“, „Predator“, „Curly Sue – ein Lockenkopf macht Wirbel“) aus der geheimen Anti-Waldorf-Kiste im Keller abgespeist – und akzeptierten zu meiner Verwunderung. Einer schrieb wohl einen anonymen Brief, der mich des Drogenhandels bezichtigte, doch zu dieser Zeit waren die Schulkonferenzen mit einem Charlottenburger Bonzenkind beschäftigt, welches am Hackeschen Markt dummerweise einem Zivilpolizisten eine Schreckschusspistole an den Kopf gehalten hatte, um ihn aus einer Telefonzelle zu vertreiben. Es gelang mir auch, die Lehrer in zwei Lager zu spalten (Geschichts- und Linguistiklehrer gegen den Rest), was darin gipfelte, dass diese Autoritätspersonen ihre persönlichen Differenzen mit in die Waagschale warfen und sich hoffnungslos zerstritten.
All das führte zu Monaten entspannter Heiterkeit. Ich spielte „Hamletmaschine“ am Deutschen Theater. Ich musste mich nach meinem Eröffnungsmonolog für eine Dreiviertelstunde unter einem Tisch im Bühnenbild verstecken. Und bei der x-ten Vorstellung schnappte ich mir den von Claudius-Darsteller Horst Lebinsky aus mangelnder Textsicherheit unter dem Tisch platzierten Text, um ein wenig darin zu stöbern (gerade in diesem jungen Alter entdeckt man bei Müller-Texten täglich einen Satz mehr, den man versteht). So sorgte Müller indirekt für den Beginn einer Zeit ohne Sorgen. Ebenso schnell allerdings wurde sie durch die wüsten Beschimpfungen einer Schauspiellegende beendet, die ihren Text nicht fand.