: Die neue Angst-Klasse
TAZ-SERIE Agenda 2010, Teil 6: Das Konjunkturtief schürt in der Mittelschicht die Furcht vor dem Abstieg und gefährdet die Solidarität. Doch die Unterschicht ist stärker betroffen
Angenommen, man würde in Deutschland eine Umfrage starten, wer sich der Mittelschicht zugehörig fühlt und wer nicht. Die Ergebnisse würden einiges aussagen über die Selbstwahrnehmung der Deutschen – und darüber, welche Ängste eine künftige Sozialpolitik ernst nehmen muss und welche nicht.
Betrachten wir zum Beispiel einen Akademikerhaushalt mit einem Nettoeinkommen von mehr als 45.000 Euro im Jahr – dieser Haushalt gehört statistisch zum reichsten Zehntel dieser Gesellschaft und damit zur Oberklasse. Trotzdem würde sich das Akademikerpaar wohl eher als Mittelschichtler einstufen. Die Selbstwahrnehmung ist immer eine Frage des Bezugsrahmens, und da setzen sich gut verdienende Akademiker eher in Relation zu ihren Verwandten, Nachbarn und Kollegen als zu langzeitarbeitslosen Ostdeutschen oder libanesischen Flüchtlingsfamilien.
Würde man den Bezugsrahmen, in dem viele Deutsche ihren Wohlstand sehen, noch stärker global oder historisch erweitern, käme man unweigerlich zu dem Schluss: Es geht den meisten hier besser, als sie denken. Ein historischer Vergleich: Ein westdeutscher Arbeitnehmer mit einem durchschnittlichen Einkommen hatte im Jahre 1955 eine Kaufkraft von monatlich 600 Euro (also in gegenwärtigen Preisen!) und lag damit etwa auf dem Niveau eines heutigen Sozialhilfeempfängers. Damals fühlte man sich mit dieser Kaufkraft nicht ausgeschlossen: Auch die anderen hatten kein Auto, fuhren kaum in Urlaub und gingen nicht in Restaurants essen.
Das subjektive Empfinden von Wohlstand hängt nicht an einem absolut bezifferbaren Niveau, sondern immer mit dem sozialen Anschluss zusammen. Die Sorge des Einzelnen vor dem persönlichen Absturz, vor dem Ausschluss ist daher die zentrale Furcht, der sich eine Sozialpolitik heute stellen muss. Leute mit mittlerem oder höherem Einkommen sind davon besonders betroffen, aus psychologischen Gründen: Wer viel zu verlieren hat, sorgt sich besonders um die Einbuße. „Ob die Mittelklasse hinunterschaut in die Welt der Entbehrungen oder hinauf ins Reich des Überflusses, die Angst vor dem Absturz verliert sie nie“, fasst die US-amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich zusammen.
Wie relativ das Gefühl von „Ausschluss“ dabei ist, zeigt sich am Streit um die Agenda 2010. Als die Beschränkung von Arbeitslosengeld und -hilfe ins Gespräch kam, regte sich plötzlich geballter Widerstand, weil damit eine dramatische Umdeutung einherging: Früher wechselten viele Beschäftigte in ihren Spätfünfzigern via Arbeitslosenversicherung in eine Art heimliche Frührente. Es war ein normales Modell auch für Angestellte mit Mittelschichtseinkommen. Man fühlte sich dabei nicht als ausgemusterter Sozialfall, sondern als Vorruheständler, und das macht einen großen Unterschied.
Doch jetzt, mit den Einschränkungen der Agenda 2010, entsteht ein Horrorbild. Nach einem Jahr Arbeitslosengeld kommt der Abstieg auf Sozialhilfeniveau, sogar das Ersparte muss drangegeben werden. Jetzt sehen joblose Mittfünziger plötzlich aus wie Verlierer, ohne Chance auf dem Stellenmarkt, ausgeschlossen, bald auch verarmt. Bundeskanzler Schröder witterte die Furcht und besserte nach, es soll weiträumige Übergangsregelungen geben und die Arbeitslosenhilfe nur stufenweise sinken.
Durch das Scheitern der New Economy mit ihrem Geschwätz des „Wer gut ist, schafft es immer“ ist die Angst vor dem persönlichen Absturz noch gewachsen. Viele Jungselbstständige finden sich heute auf einem Dienstleistungsmarkt wieder, auf dem schlichtweg keine Nachfrage mehr herrscht, wie brillant ihre Ideen auch sein mögen und so sehr sie auch bereit zu einer 60-Stunden-Woche sind. Der Glaube an die Kraft des Individuums wurde nachhaltig erschüttert. Und das Geld in den Sozialkassen wird immer knapper.
Dabei ist das Kürzungspotenzial bei näherem Hinsehen jedoch erstaunlich groß. Eine Auslagerung des Krankengeldes, das die Bürger mit 15 Euro im Monat belasten würde, ist noch kein brutaler Sozialabbau, brächte aber 7 Milliarden Euro. Der Wegfall der Eigenheimzulage schlüge mit bis zu 9 Milliarden Euro zu Buche. Zwei Nullrunden für die RentnerInnen würden 7 Milliarden Euro erwirtschaften. Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer brächte rund 9 Milliarden Euro im Jahr – so pleite ist Deutschland also doch nicht.
Eine künftige Sozialpolitik, die ohne gigantische Neuverschuldungen auskommen will, braucht also Einschränkungen bei der Mittelschicht und natürlich auch der Oberklasse nicht zu scheuen. Jede Beschränkungspolitik sollte den Leuten allerdings vermitteln, das die andern auch verzichten müssen, um das Gefühl zu vermeiden, persönlich ungerecht behandelt zu werden. Sozialpolitik ist immer auch eine Verteilungsfrage. Und das ist der entscheidende Punkt.
Wie nämlich geht es weiter, wenn das Herbeireden eines Aufschwungs so wenig funktioniert wie das Regenmachen in der Wüste? Es sprechen einige Daten dafür, dass sich die hiesige Gesellschaft mit einer jahrelangen Schwächeperiode arrangieren muss.
Eine künftige Sozialpolitik wird sich dann auf das Wesentliche beschränken müssen – und das besteht darin, Zugänge zu Bildung und Gesundheit für alle frei zu lassen und nur noch die Abstürze nach ganz unten aufzufangen. In einer Gesellschaft, die mit der Massenarbeitslosigkeit umgehen muss, bedeutet das: Man wird die öffentlich subventionierte Beschäftigung wieder ausbauen müssen. Die neue Jobförderung aber wird billiger sein als die früheren gut ausgestatteten ABM, einfach aus Kostengründen. Vielleicht werden sich gerade viele ältere Erwerbslose in Teilzeitarbeit etwas zu ihrem Arbeitslosengeld II hinzuverdienen. Die Nebenverdienstgrenze von derzeit 165 Euro monatlich für Arbeitslose zu erweitern ist von der rot-grünen Regierung schon geplant. Auch ein neues Beschäftigungsprogramm für Langzeitarbeitslose hat Rot-Grün angekündigt.
Wenn eine künftige Sozialpolitik aber nur noch die Abstürze nach ganz unten auffängt, dann stellt sich die Frage: Wie beitragswillig wird künftig die (vor allem westdeutsche) Mittelschicht aus Facharbeitern, Angestellten, Akademikern sein, sich an dieser sozialen Sicherung zu beteiligen? Denn von Langzeitarbeitslosigkeit sind nach wie vor bestimmte Milieus überproportional betroffen: ältere Ungelernte, Immigranten, BürgerInnen in bestimmten ostdeutschen Regionen. Sie bilden das Patchwork der neuen Unterschicht in Deutschland.
Wie solidarisch aber ist das Lehrerehepaar in Stuttgart mit der joblosen Hilfsverkäuferin in Meck-Pomm? Wie unterstützungswillig ist der Arzthaushalt in Düsseldorf mit arbeitslosen jungen Türken in Berlin-Kreuzberg? Die Frage der Solidarität zwischen Mittel- und neuen Unterschichten ist die entscheidende Frage. In einigen Jahren wird sie die Sozialpolitik in Deutschland bestimmen.
BARBARA DRIBBUSCH