: Vorbei mit Einheitsbrei
Ein Essener Altersheim will Demenzkranken mehr Essenslust verschaffen: „Fingerfood“ statt Einheitspampe steht ab jetzt auf dem Speiseplan
VON NATALIE WIESMANN
„Auch verwirrte, ältere Menschen haben ein Recht auf Lebensqualität“, sagt Heinrich Gerlach, Heimleiter des Evangelischen Altenzentrums in Essen-Steele. Und die fange beim Essen an. Anfang April ist in seinem Haus ein zweijähriges Modellprojekt gestartet, das bei Demenzkranken durch Mitsprache beim Speiseplan und neuen Ess-Ideen wieder Appetit wecken will. Denn seit Längerem steht der Ernährungszustand von Senioren in deutschen Alters- und Pflegeheimen in der Kritik.
In Remscheid, so vermutet die Staatsanwaltschaft, soll Anfang des Jahres eine Bewohnerin des Pflegeheims Stockderstiftung verdurstet sein und auch eine aktuelle Studie unter Essener Seniorenheimbewohnern fiel verheerend aus. Zwei Drittel der Befragten beschwerten sich in der möglichen Kulturhauptstadt Europas über das Essen. „Alles eine Sache des Geschmacks, nicht der Qualität“, kommentierte im Februar Gesundheitsdezernent Ludger Hinsen die Ergebnisse gegenüber der taz. Niemand habe sich etwas vorzuwerfen.
„Die Bedeutung der Esskultur ist bisher in vielen Einrichtungen nicht berücksichtigt worden“, meint der Schweizer Gerontologe und diplomierte Küchenchef Markus Biedermann. Er erforscht seit Jahren in seiner Heimat die Esskultur von älteren Menschen. Biedermann begleitet auch das Projekt in Essen und sucht parallel dazu im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Ernährung nach neuen Wegen.
„Wir wollen die Bewohner wieder zum Essen verführen“, sagt er. Dazu gehörten auch einfache Dinge wie die Sinnesanregung durch Kochen in den Wohnbereichen oder die Aufstellung einer Saftpresse. „Gerüche sind auch Brücken in die Vergangenheit“, erklärt der Gerontologe. Für besonders unruhige Bewohner, die „keine Zeit haben zu essen“, möchte er überall kleine Verpflegungsstationen einrichten.
Das Senioreneinrichtung in Essen-Steele betreut in seinen Häusern insgesamt 280 alte Menschen. Von diesen gelten mehr als 60 Prozent als demenzkrank. Als bekannteste Form gilt die Alzheimer Krankheit.
Angelika Koldewitz, stellvertretende Pflegeleiterin des Heims, ist froh, dass der Schweizer Experte zu ihrem Team gestoßen ist. „Gegen alle Widerstände hat uns Biedermann gezeigt, dass es möglich ist, die Abläufe in der Küche umzuorganisieren“, sagt sie. Fünf Köche, acht Küchenhilfen und eine Diätassistentin seien am neuen Ernährungsprojekt beteiligt. Chefkoch Martin Reinirkens war früher in der gehobenen Gastronomie tätig. Alle Köche sollen nun regelmäßig in die Wohnbereiche gehen und mit den Bewohnern die Essenspläne besprechen. Zu den ersten Erneuerungen gehört das so genannte „Fingerfood“. „Heimbewohner, die bisher gefüttert werden mussten, sollen durch mundgerechte Stücke wieder zum selbstständigen Essen animiert werden“, erklärt der Chefkoch.
Das Projekt kostet für die zwei Jahre 130.000 Euro, finanziert mit Stiftungsgeldern und Eigenmitteln. Es soll zuerst in einem Wohnbereich durchgeführt und bei Erfolg auf das ganze Haus ausgeweitet werden. Ein Vorbild auch für andere Altersheime in Essen. „Wir wollen damit Standards setzen“, bestätigt Koldewitz.
Im Essener Gesundheitsamt wird das Experiment mit großem Interesse beobachtet. „Bei Erfolg empfehlen wir das Modell gerne weiter“, sagt Amtsleiter Rainer Kundt. Geld gebe die Stadt dafür aber nicht aus.