: „Wir sind genauso ratlos wie die Belegschaft“
In Wesel beriet die IG Metall eine Strategie gegen die Drohkulisse von Siemens. Mit Kampfmaßnahmen wird man die bedrohten Arbeitsplätze in Bocholt und Kamp-Lintfort kaum retten können: „Das ist hier nicht Rheinhausen“
WESEL taz ■ Der entscheidende Satz fiel zum Schluss: „Wir wissen, Sie haben noch viele Fragen, aber keine Antworten“, entfuhr es dem Bocholter IG-Metall-Bevollmächtigten Heinz Cholewa am Ende der eineinhalbstündigen Pressekonferenz im Weseler „Welcome Hotel“. 90 Minuten lang hatten sich der Gesamtbetriebsratsvorsitzende der Siemens AG, Ralf Heckmann, die anwesenden Betriebsräte der Siemens-Werke Bocholt und Kamp-Lintfort und die jeweiligen IG-Metall-Bevollmächtigten im Anschluss an die Vertrauensleute-Konferenz gemüht, ihre momentane Hilflosigkeit in Bezug auf eine Strategie zum Erhalt der 2.000 bedrohten Arbeitsplätze an beiden Standorten mit vielen Worten zu überspielen.
Das Ergebnis der Beratungen am Dienstag Abend: ein Stimmungsbild. „Die Palette reichte von ‚Wir haben die Schnauze voll‘ bis ‚Holt raus, was geht‘“, so der IG-Metall-Bevollmächtigte für den Kreis Wesel, Ulrich Marschner. Der kleinste gemeinsame Nenner der IGM: „Wir wollen auf jeden Fall die Arbeitsplätze erhalten – das heißt aber nicht, dass wir auf die vom Arbeitgeber anvisierten 40 Stunden ohne Lohnausgleich eingehen werden – weder die Betriebsräte noch der Gesamtbetriebsrat“, verwies Heckmann darauf, dass jeder achte Arbeitsplatz dann an den Standorten gefährdet sei: „Wenn wir da keinen Riegel reinkriegen, können sich viele Leute in dem Raum hier einen Platz unter der Brücke suchen. Bei der Frage, wie das abzuwenden sei, antwortete Marschner einsilbig: „Mit Siemens reden“.
Im Anschluss an die Pressekonferenz wurde Marschner dann noch deutlicher: „Wir sind genauso ratlos wie die Belegschaft, und wer von uns da Patentrezepte erwartet, der überfordert uns ein bisschen.“ Ein Streik sei da auch keine Lösung. Erst mal will die IG Metall ausloten, was von Seiten der Siemens AG noch kommt: „Das ist kein Rheinhausen hier, da war die Situation ganz anders.“ Rationalisierungspozentiale gebe es zumindestens in Kamp-Lintfort in der Produktion noch reichlich. Gebe Siemens eine Arbeitsplatzgarantie und investiere in die Standorte, ziehe man vielleicht eher mit, so Marschner. Außerdem binde der Tarifvertrag bis 2006 die Parteien – „da kann nur die IG Metall zu zivilem Ungehorsam aufrufen“, so Heckmann.
Wie man in der Praxis dem Zwiespalt entrinnen will, auf der einen Seite bereits im März im Servicebereich des Bocholter Werkes die 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich zur Rettung von 200 Arbeitsplätzen zugelassen zu haben und jetzt bei Verhandlungen für den Produktionsbereich das abwehren zu wollen – auch hier erneut nur Rhetorik: „In der Produktion ist das was anderes – da gibt es andere Lohnkosten“, sagte der Bocholter Metaller Cholewa. Zunächst einmal müsse man aber die Produktionszahlen der beiden Werke von Wirtschaftsprüfern durchchecken lassen und dazu bei den ersten ernsten Gesprächen mit der Siemens-Konzernleitung ab dem 10. Mai in Kamp-Lintfort einen „Datenaustausch“ vornehmen, sagte Gesamtbetriebsrat Heckmann. Und Kollege Cholewa: „Wenn die Bedingungen so gravierend sind, werden wir auch über Änderungen im Tarifrecht reden müssen.“
Die „zweite Seite der Medaille“ sei die Mobilisierung der Politiker in Berlin und Brüssel, um „Siemens dazu zu gewinnen, von den Belagerungszuständen abzusehen“, so Cholewa. Der Fall Siemens sei ein Thema für ganz Deutschland. 100.000 Arbeits-plätze gingen jährlich in den Osten. Siemens wolle 25 bis 42 Prozent der Entwicklungskosten in Hochlohnländern einsparen: „Wenn Siemens geht, werden andere nachziehen“, so Heckmann.
Zum Schluss entwarf Gesamtbetriebsrat Heckmann ein düsteres Szenario: „Bei einem Rückschrumpfen auf einen Personalbestand von jeweils nur noch 1.000 Menschen wäre die Überlebenschance beider Werke sehr gering.“. ALEXANDER FLORIÉ