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Archiv-Artikel

Kunstgriffe der Erinnerung

Eine Überlebende kehrt zurück an den Ort des Terrors: Marceline Loridan-Ivens‘ halb fiktiver, halb autobiografischer Film „Birkenau und Rosenfeld“. In jeder Szene spürt man den Druck, in der Gegenwart die Vergangenheit aufzuspüren

VON SVEN VON REDEN

Birkenau ist ein schöner Name für einen grausamen Ort. Auf dieser „Birkenwiese“ stand eines der Hauptlager von Auschwitz, in dem hunderttausende vergast wurden. Heute wächst zwischen den Baracken friedlich das Gras. Anouk Aimée sitzt neben einem der lang gezogenen Gebäude und pisst: „Das ist mein Zuhause, ich mache hier, was ich will“, ruft sie unwirsch einem jungen Mann entgegen, der sie entsetzt beobachtet.

Aimée spielt in „Birkenau und Rosenfeld“ eine Überlebende des Konzentrationslagers, die nach über 50 Jahren an den Ort zurückkommt, um sich ihren Erinnerungen zu stellen. Sie bricht durch einen Zaun in das Lager ein, als wolle sie diesmal die Art ihres Eintritts selber bestimmen und sich des Ortes nach ihren Maßgaben bemächtigen. So lässt sich auch ihr Urinieren verstehen: Es ist Ausdruck der Inbesitznahme wie der Entweihung des Orts.

Schon diese zwei Szenen verdeutlichen, dass sich „Birkenau und Rosenfeld“ nur schwer in eine Typologie des Schoah-Films zwängen ließe. In den letzten Jahren gab es vor allem zwei Perspektiven in Filmen über den Holocaust: Die Spielfilme stellen zwar die Opfer in den Vordergrund, versuchen aber nicht, das Sterben in den Lagern realistisch darzustellen. Niemand will sich anmaßen, das Grauen filmisch abbilden zu können – in Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ reicht ein angedeuteter Leichenberg als Symbol für die Vernichtungspolitik. Der Anspruch auf Authentizität bleibt Dokumentationen vorbehalten, allen voran den Filmen der Shoah Visual History Foundation, die sich auf Aussagen der noch lebenden Opfer konzentrieren – ein Versuch, das Erinnern lebendig zu halten, bevor die letzten Überlebenden sterben.

„Birkenau und Rosenfeld“ fällt zwischen beide Ansätze: Es ist zwar ein fiktionaler Film, er spielt aber ausschließlich in der Gegenwart. Dokumente körperlichen Leids aus der Gedenkstätte werden nicht gezeigt. Thematisch ist er eher den Filmen der Shoah Foundation verwandt: Regisseurin Marceline Loridan-Ivens, Witwe des Dokumentarfilmers Joris Ivens, ist selber Überlebende des Lagers Birkenau. In Jean Rouchs essayistischem Dokumentarfilm „Chronik eines Sommers“ (1961) sprach sie darüber. In einer unvergesslichen Szene streifte sie über die Pariser Place de la Concorde, vertieft in ein Zwiegespräch mit ihrem in Auschwitz ermordeten Vater. Kurz zuvor erklärte sie afrikanischen Austauschstudenten beim Mittagstisch, was die Tätowierung auf ihrem Arm bedeutete: „Nein, meine Telefonnummer ist das nicht.“

Ihr eigener Film stellt einen Versuch dar, Erinnerungen lebendig zu halten. Es geht der Regisseurin allerdings weniger um den Inhalt dieser Erinnerungen, sondern darum, „der Suche im Erinnern seinen Stellenwert einzuräumen“.

Ein Vorhaben, das schwierig visuell zu vermitteln ist. Loridan-Ivens will „die Präsenz des Ortes unerträglich werden lassen“, bis zu dem Punkt, an dem die Erinnerung an das, was geschehen ist, „von den Bildern kommt und nicht von den Worten“. Das gelingt in Szenen wie den anfangs beschriebenen. Doch die Regisseurin kommt natürlich nicht umhin, auch auf Worte zurückgreifen: Ihr Alter Ego Anouk Aimée streift durch die Lager, spricht mit sich selber und freundet sich nach anfänglichen Schwierigkeiten mit dem Enkel eines SS-Schergen an, der den Ort mit seinem Fotoapparat zu begreifen sucht. Das sind Kunstgriffe, um das Erinnern und die Suche danach von außen begreifbar zu machen.

40 Jahre hat sie gebraucht, bis sie sich dazu in der Lage sah, das Drehbuch für „Birkenau und Rosenfeld“ zu schreiben. Und man merkt dem Film in jeder Szene an, wie schwer der Regisseurin die Dreharbeiten fielen, aber auch, dass sie ihn machen musste. Es ist ein sehr persönlicher Film, der Menschen, die keine schwer traumatisierenden Erlebnisse hinter sich haben, wenig Einstiegshilfen bietet – und diese auch gar nicht bieten will. Am Ende bleibt das unheimliche Bild von harmonisch wogendem hüfthohem Gras vor den steinernen Symbolen des Terrors.

„Birkenau und Rosenfeld“. Regie: Marceline Loridan-Ivens. Mit Anouk Aimée, August Diehl, Claire Maurier u. a. Frankreich 2002, 90 Min.